Die Lichtfaenger
im Marschtritt auf das Kopfsteinpflaster knallten.
Im Text kamen auch noch erschossene Rotfront und Reaktion vor und Reaktion schien alles zu sein, was nicht ihrer Meinung war. Vom Weltjudentum, von einer weltweiten Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft hatte der Redner in schneidigem Ton gesprochen. Das sehe man an Russland, das schon fest in ihrer Hand sei, der ganze Bolschewismus sei nichts anderes als ein riesiges, jüdisches Komplott, unterstützt von Juden in Amerika. Ein paar Leute hatten gebuht und der Applaus war nicht allzu üppig ausgefallen. Vielleicht glaubte der Redner selbst nicht so ganz daran, was er den Leuten einzutrichtern versuchte. Fast jeder kannte einen Juden und da war keiner dabei, der diesen Ausführungen auch nur annähernd entsprochen hätte. Die meisten waren Krämer, Schneider, Beamte, Musiker, Optiker, Apotheker, Ärzte, Handwerker –
kleine Leute von nebenan. Was hatten die mit der großen Weltpolitik zu schaffen?
Lois Oliphant stand noch immer da. Erst ein gleichmäßiges, tastendes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Ein Mann mit einem abgetragenen grauen Mantel tastete sich mit einem weißen Stock an den Häuserwänden entlang. Am Arm trug auch er eine Binde, aber sie war nicht rot, sondern gelb und hatte drei schwarze Punkte. Mit ein paar Schritten trat sie zur Seite, machte dem Blinden Platz und setzte dann ihren Weg fort.
Ein böser Wind fuhr den Rhein herauf, zauste in ihren Haaren. Ans Geländer gelehnt, schweifte ihr Blick über das graugrün schwappende Wasser. Hier bei Bonn hatten sie also den Geck Augustin 1670 oder 1671 im Fischereihafen gefunden.
Sie schloss die Augen und da sah sie ihn. Drüben, auf der anderen Seite. Ein kleiner Mann, dessen Gesicht sie trotz der Entfernung deutlich erkennen konnte, trat unter den Bäumen hervor ans Ufer. Seine Kleidung war ärmlich, die Joppe mehrfach geflickt, die faltigen Wangen erinnerten an einen traurigen Dackel, die Augen leblos, stumpf wie matter Kiesel und bewegungslos geradeaus gerichtet. Mit hängenden Schultern blieb er knapp am Wasser stehen, machte plötzlich einen entschlossenen Schritt vorwärts, trat dann wieder zurück.
In seinen soeben noch leeren Augen stritten sich nun nackte Verzweiflung und Todesangst. Wieder nahm er einen Anlauf, hielt zitternd inne. Hilfe heischend, flehend sah er um sich.
Aber niemand war da außer ihm. Mit einem lauten, nicht enden wollenden Schrei warf er sich unerwartet nach vorn, schien für einen Moment gleichsam über dem Wasser zu schweben. Die Stimme erstickte in einem hustenden Keuchen. Dort, wo der Geck Augustin verschwunden war, bildeten sich auseinander laufende konzentrische Kreise, die nach und nach schwächer und undeutlicher werdend verebbten. Nur noch sein Hut trieb auf der Oberfläche und zeigte die Stelle seines Untergangs.
Gibbons öffnete die Augen. Aber da war nur der Wind, der das Wasser kräuselte wie Krepppapier. Vielleicht war ja alles ganz anders gewesen, vielleicht war er gar nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, sondern jemand hatte nachgeholfen, ihn ertränkt.
Aufatmend wandte sie sich zum Gehen, nahm den nächsten Omnibus nach Bonn und suchte dort ein Postamt auf.
In den Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 1861 waren sie und Burr auf die von Dr. Eckertz verfertigte Abschrift von Prozessen in Flamersheim gestoßen und von dort hatte man Bereitschaft signalisiert, die Originalakten eventuell in die Corneller Sammlung zu integrieren.
»Ein Telegramm bitte!«, sagte sie freundlich zu dem Fräulein hinter dem Schalter.
»Wohin bitte?«
»Nach Amerika. Universität Cornell in Ithaca!«
»Oh«, meinte das Fräulein erschrocken, »das kann ich nicht!
Einen Moment bitte!«
Aufgeregt verschwand sie hinter einer Tür und kam dann mit einem großen Mann mit Ärmelschonern und Brille zurück.
Lois Oliphant wiederholte ihren Wunsch, schrieb »Cornell«,
»Mister Burr« und »Ithaca« auf einen Zettel, nachdem mehrere Buchstabierversuche nur zu Verwirrung geführt hatten.
»Den Rest auf Deutsch!«, sagte sie dann. »Flamersheimer Akten gekauft! Preis in Ordnung. L.O.G.«
»Das kann etwas dauern. Die Leitungen!«, meinte der Postbeamte und nannte ihr den Preis.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass sie noch etwas Zeit hatte. Im Gasthof »Zur Palme« gab es nur drei Gerichte, das erforderte kein allzu langes Abwägen.
»Kabusta? Was ist das?«
»Weißkohl mit Hackfleisch und Kartoffeln«, antwortete die
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