Die Lichtfaenger
Dokument, das die Verfolgungen von innen her, nicht aus der gelehrten Perspektive eines Binsfeld, Bodin, Institoris und Sprenger oder Remy, nicht aus den sorgsam geglätteten Protokollen der Richter, sondern aus der Sicht eines einfachen Mannes zeigt, der selbst vom Jäger zum Gejagten wurde. In einer teilweise deftigen Sprache schildert dieser Löher, wie es in den Gerichtssälen tatsächlich zugegangen ist und wie er es selbst erlebt hat. Aber das ist noch nicht alles. Es enthält auch die Wiedergabe eines bisher gänzlich unbekannten Schriftstückes eines Landpfarrers, der sich vom Saulus zum Paulus gewandelt hat, das ›Brillentraktat‹ von dem im Titel erwähnten Michael Stappert.«
Burr schwieg einen Moment und sah seine Schülerin ernst an.
»Miss Gibbons, es ist keine einfache Arbeit. Der Text ist gespickt mit Bibelzitaten. Hermann Löher war offensichtlich ein sehr frommer Mann, der die Bibel anscheinend fast auswendig kannte und oft aus dem Gedächtnis zitierte, allerdings nicht immer ganz korrekt. Darüber hinaus ist das Werk ziemlich verschachtelt, da er den Befürwortern der Verfolgungen immer wieder seine eigenen Erlebnisse gegenüberstellt. Erst vierzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen hat er es verfasst und man spürt immer noch seine Erschütterung, die ihn wohl sein ganzes Leben lang nicht losgelassen hat!«
»Das hier ist eine Abschrift, sagten Sie. Dann muss es doch auch ein Original geben! Wissen Sie, wo es sich befindet?«
»Es gibt zwei. Ich denke, er hat sie seinen Söhnen geschenkt.
Alle übrigen Exemplare hat seine Frau vermutlich als Altpapier einstampfen lassen. Das eine Original, von dem diese Abschrift stammt, liegt im Sankt-Michael-Gymnasium von Bad Münstereifel, Löhers Geburtsstadt, das andere in der Universitätsbibliothek in Amsterdam. Ich habe es schon einmal in der Hand gehabt, doch sie hüten es wie ihren Augapfel.
Außerdem ist es nicht vollständig, aber auch im Münstereifler Exemplar fehlen ein paar Seiten.«
40
An der Wand unter dem Vordach hing ein halb zerfetztes Plakat. Ein Großvater, ein Vater und dessen Sohn drehten unter Aufbietung all ihrer Kräfte eine riesige Winde unter der Fuchtel eines auf der Achse sitzenden, eine Peitsche schwingenden Antreibers mit wirren Haaren und diabolischem Blick. »Bis in die dritte Generation müsst ihr fronen!«, hieß es da. Offensichtlich bezog es sich auf den Young-Plan, der für Deutschland Reparationszahlungen von einhundertzwölf Milliarden Reichsmark mit einer Laufzeit bis zum Jahr 1988
vorsah. Dieser Plan war vor kurzem mit einem Volksbegehren abgelehnt worden.
Krachend flog auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Tür »Zum deutschen Eck« auf.
Lois Oliphant Gibbons fuhr erschrocken herum.
Ein Mann, etwa Mitte dreißig, torkelte zwischen den beiden Hakenkreuzfahnen links und rechts des Eingangs auf den Gehsteig. Hinter ihm folgten brüllend und schreiend drei andere in Uniform, rissen ihn zu Boden, zwei droschen mit Fäusten auf ihn ein, während der dritte den Wehrlosen mit seinen schweren Stiefeln traktierte. Neben Lois Oliphant waren ein paar Leute stehen geblieben, sahen hinüber, wütend, reglos, ablehnend oder ängstlich. Aber niemand wagte es
einzuschreiten.
»Du Volksfeind, du verkommener!«, schrie einer, dem die schwarze Mütze verrutscht war. »Wir werden dir zeigen, was es heißt, dieses Judenpack in Schutz zu nehmen!«
»Gesindel!«, murmelte eine Frau angewidert.
Schnaufend ließen die drei endlich von dem Mann ab, rückten ihre Uniformen zurecht, warfen den Umstehenden einen herrischen Blick zu und verschwanden wieder in der Kneipe.
Der verkrümmt am Boden Liegende begann sich zu regen, kam langsam auf die Beine, wischte sich das Blut aus dem Gesicht, langte nach seinem Hut, den sie ihm
hinterhergeworfen hatten, und entfernte sich schwankenden Schrittes.
Gibbons jagten sie immer wieder Schauer ein, diese marschierenden Männer mit den reglosen Gesichtern von Zinnsoldaten in ihren braunen Hemden, den Stiefelhosen, mit Koppel und Schulterriemen und den roten Hakenkreuzbinden am Arm. Vielleicht war es gerade das, was die Menschen am vergangenen Sonntag auf die Straße getrieben hatte und ihnen so etwas wie Zuversicht gab.
»Zum letzten Mal wird nun Appell geblasen
Zum Kampfe steh’n wir alle schon bereit.
Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen
Die Knechtschaft dauert nur mehr kurze Zeit!«
Das war eines der Lieder, die sie gesungen hatten, während die Stiefel
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