Die Liebe des Wanderchirurgen
und versicherte ihr noch einmal: »Nichts auf dieser Welt könnte dich in meinen Augen hässlich machen, Liebste.« Dann erschrak er. »Um Gottes willen, was bin ich für ein Rabenvater! Ich habe noch nicht einmal nach den Kindern gefragt. Wo sind sie eigentlich?«
»Sie schlafen schräg gegenüber, auch die kleine Jean. Nella ist bei ihnen und sagt mir Bescheid, wenn Jean sich wieder meldet. Ich … ich …«
»Ja, Liebste?« Liebevoll strich er ihr über das schwarze Haar.
»Ich fühle mich nicht wohl.«
»Natürlich. Aber das wird sich geben, jetzt bin ich ja wieder da.« Plötzlich merkte er, wie müde er war. »Sag, gibt es in diesen kargen Räumen irgendwo ein Bett für dich und mich? Ich schlage vor, wir gehen schlafen, am Tag wird alles besser aussehen.«
»Hoffentlich hast du recht.«
»Natürlich habe ich recht.« Vitus gab sich überzeugter, als er war. Er half Nina auf die Beine, und sie gingen in ein Nebenzimmer, wo sich eine einfache, mit einer Strohmatratze versehene Lagerstatt befand.
»Ich weiß nicht, ob ich schlafen kann«, sagte Nina. »Es war alles so viel in letzter Zeit.«
»Wir werden es gemeinsam schaffen, Liebste.« Er versuchte einen Scherz: »Im gemeinsamen Einschlafen haben wir doch einige Übung, nicht wahr?«
Nina lachte nicht, doch wenigstens lächelte sie flüchtig. Ohne sich zu entkleiden, schlüpfte sie unter die Decke, und Vitus legte sich neben sie. Er drehte sich zu ihr, streichelte sanft ihr Gesicht und flüsterte: »Träume süß, mein Mädchen, ich bin wieder da und wache über dich, träume nur süß.«
Kurz darauf schlief sie tatsächlich ein, er selbst aber blieb noch lange wach, gefangen im Karussell seiner Gedanken. Schließlich musste er doch eingenickt sein, denn er schreckte auf, als Nina sich irgendwann erhob, um die kleine Jean im Nebenzimmer zu stillen.
Die erste Nacht mit ihr hatte er sich anders vorgestellt.
Am Morgen des 3 . September lachte die Sonne, alles Düstere der vergangenen Stunden schien vergessen. Zu Vitus’ Erleichterung erklärte Nina sich einverstanden, mit den Kindern und Nella wieder ins Schloss zu ziehen, und gegen zehn Uhr saßen alle einträchtig im Grünen Salon und nahmen ein verspätetes Morgenmahl ein. Da Hartford verschwunden war, hatte Mary das Servieren übernommen. Ihr freundliches Gesicht ließ die hochmütigen Züge des Dieners leicht vergessen.
»Morgenstund hat Gold im Mund!«, rief der Magister, während er mit vollen Backen eine Eierspeise vertilgte. »
Aurora musis amica!
Das könnt ihr euch gleich merken, ihr Rangen! Der frühe Vogel fängt den Wurm! Und des Morgens studiert es sich am besten! Was macht eigentlich der alte Doktor Burns? Wenn ich mich nicht irre, versucht er, euch die Sprache der alten Römer näherzubringen?«
»Doktor Burns kommt heute im Laufe des Tages, um sich meinen Arm anzusehen«, antwortete Nina für die Kinder. »Er meinte, das sei wichtiger als Vokabeln und Deklinationen.«
»Oh!« Der kleine Gelehrte verschluckte sich fast. »Da bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten, liebe Nina? Aber nichts für ungut, die Sache mit deinem Arm wird sich schon wieder einrenken, äh, ich meine, er ist ja schon gerichtet, was ich sagen will, ist, dass er bald verheilt sein wird.«
Die Kinder kicherten.
Nina lächelte.
Der Magister wurde rot. »Vielleicht sollte ich als Mann der Paragraphen nicht so viel über Medizinisches reden. Schuster, bleib bei deinem Leisten.«
»Er hat es schon wieder gesagt!«, brüllte Odo. »Schuster, bleib bei deinem Leisten! Er ist so lange weg gewesen, und nun hat er es schon wieder gesagt!«
»Ja, das hat er!«, krähte Carlos.
»Schreit nicht so«, sagte Nella. »Und macht den Mund zu beim Kauen.«
Vitus sagte nichts. Er war glücklich, wieder zu Hause zu sein, die kleinen Kabbeleien am Tisch hörten sich wie Musik für ihn an.
Der Magister tupfte sich mit einem riesigen Tuch den Mund ab. »
Narratio argentea, silentium vero aureum est.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, ihr Rangen. Schreibt euch das hinter die Ohren. Ich werde jetzt ebenfalls schweigen und mir ein bisschen die Beine vertreten.« Der kleine Mann blinzelte und grinste, erhob sich und ging hinaus.
Auch Nella stand auf. »Ich schau mal nach Jean in der Wiege, Tante Nina.«
»Wir wollen auch aufstehen!«, brüllte Odo.
»Ja, wir sind schon lange fertig!«, fiel Carlos ein.
»Dann macht, dass ihr rauskommt.« Vitus konnte an diesem Morgen nicht streng sein, außerdem hoffte er auf
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