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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Florentino Ariza bewahrte verschwommene Erinnerungen an die Reise in seiner Jugend, und der Anblick des Flusses ließ sie in blendenden Bruchstücken wiederaufleben, als sei das alles gestern gewesen. Er begann Fermina Daza davon zu erzählen, glaubte sie damit aufmuntern zu können, doch sie rauchte in einer anderen Welt. So verzichtete Florentino Ariza auf seine Erinnerungen und ließ sie mit den ihren allein, drehte ihr inzwischen Zigaretten und reichte sie ihr schon angezündet, bis die Schachtel leer war. Die Musik verstummte nach Mitternacht, der Lärm der Passagiere verlor sich, löste sich in ein schläfriges Flüstern auf, und die beiden Herzen blieben allein im Schatten des Ausgucks, lebten im keuchenden Takt des Schiffes. Nach einer langen Zeit sah Florentino Ariza Fermina Daza an, im Glanz des Flusses wirkte sie wie ein Geist auf ihn, ein bläulicher Schein machte ihr statuenhaftes Profil sanfter, und er sah, daß sie stumm weinte. Statt sie aber zu trösten oder zu warten, bis ihre Tränen versiegt waren, wie sie es sich gewünscht hatte, geriet er in Panik. »Möchtest du allein sein?« fragte er.
    »Wenn ich es wollte, hätte ich dich nicht hereingebeten«, sagte sie.
    Woraufhin er seine eisige Hand in die Dunkelheit streckte, im Finstern nach der anderen Hand tastete und sie, die auf ihn wartete, fand. Beide waren nüchtern genug, sich einen flüchtigen Moment lang einzugestehen, daß keine der verknöcherten alten Hände die war, die sie sich vor der Berührung vorgestellt hatten. Aber einen Augenblick später waren sie es bereits. Und als Fermina Daza von ihrem toten Mann in der Gegenwart, so als lebe er noch, zu sprechen begann, erkannte Florentino Ariza, daß auch für sie die Stunde gekommen war, sich mit Würde, Größe und einem unbezwingbaren Lebenshunger zu fragen, wohin mit der Liebe, die herrenlos zurückgeblieben war.
    Fermina Daza rauchte nicht weiter, um nicht die Hand loslassen zu müssen, die die ihre hielt. Sie war erfüllt von dem Verlangen zu verstehen. Sie konnte sich keinen besseren Ehemann als den ihren vorstellen und stieß dennoch bei der Rückbesinnung auf ihr Leben auf mehr Störendes als Angenehmes, zu oft hatte es am gegenseitigen Verständnis gefehlt, unnötige Streitereien und Verstimmungen gegeben, die nicht ausgeräumt wurden. Sie seufzte plötzlich: »Kaum zu glauben, Teufel noch mal, daß man so viele Jahre lang inmitten von so viel Kleinkram und Ärger so glücklich sein kann, ohne wirklich zu wissen, ob das die Liebe ist oder nicht.« Als sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, war der Mond von jemandem gelöscht worden. Der Dampfer bewegte sich gemessenen Schrittes voran, fußbreit um fußbreit, vorsichtig wie ein riesiges Tier, das sich anschleicht. Fermina Daza war aus ihrer Seelenangst aufgetaucht. »Geh jetzt«, sagte sie.
    Florentino Ariza drückte ihr die Hand, beugte sich zu ihr hinüber und versuchte, sie auf die Wange zu küssen. Doch sie entzog sich ihm mit ihrer heiseren und sanften Stimme. »Das nicht«, sagte sie, »ich rieche nach altem Weib.« Sie hörte ihn in der Dunkelheit hinausgehen, hörte seine Schritte auf der Treppe und wie er bis zum nächsten Tag aus dem Leben verschwand. Fermina Daza zündete noch eine Zigarette an und sah, während sie rauchte, Doktor Juvenal Urbino in seinem untadeligen weißen Leinenanzug vor sich, seine professionelle Strenge, seinen blendenden Charme, seine abgesegnete Liebe, er stand auf einem anderen Schiff der Vergangenheit und winkte ihr mit .seinem weißen Hut zu. »Wir Männer sind jämmerliche Sklaven von Vorurteilen«, hatte er ihr einmal gesagt. »Wenn eine Frau aber beschließt, mit einem Mann zu schlafen, gibt es keine Hürde, die sie nicht überspringen, und keine Festung, die sie nicht schleifen würde, noch moralische Bedenken irgendwelcher Art, die sie nicht bereit wäre, über Bord zu werfen: Da hat Gott seine Macht verloren.« Fermina Daza blieb bis zum Morgengrauen reglos sitzen und dachte an Florentino Ariza, nicht an den trostlosen Wächter im Parque de los Evangelios, der in ihrer Erinnerung nicht einen Funken von Sehnsucht weckte, sie dachte an den hinkenden Florentino Ariza von heute, der zwar gebrechlich, dafür aber wirklich war: der Mann, der immer in Reichweite gewesen war und den sie nicht zu erkennen vermocht hatte. Während das Schiff sie schnaubend dem Leuchten der ersten Rosen entgegentrug, bat sie Gott nur um eines, Florentino Ariza möge wissen, wo er am nächsten Tag neu beginnen

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