Die Lilie im Tal (German Edition)
Sie Mitleid haben? Werden Sie auf die Stimme hören, die aus meinem Grabe dringt? Werden Sie das Unglück wieder gutmachen, an dem wir beide schuld sind, Sie vielleicht weniger als ich? Sie wissen, um was ich Sie bitten will. Seien Sie für Monsieur de Mortsauf, was eine Barmherzige Schwester für einen Kranken ist, hören Sie auf ihn, lieben Sie ihn, niemand wird ihn lieben! Vermitteln Sie zwischen seinen Kindern und ihm, wie ich es getan habe! Ihre Aufgabe wird nicht von langer Dauer sein. Jacques wird bald das Elternhaus verlassen, um nach Paris zu seinem Großvater zu gehen, und Sie haben mir versprochen, ihn durch die Klippen des Lebens zu leiten. Madeleine – sie wird heiraten; möchten Sie ihr doch eines Tages gefallen! Sie ist ganz ich selbst, und außerdem ist sie stark. Sie hat den Willen, der mir fehlte, die Energie, die der Gefährtin eines Mannes nötig ist, den seine Laufbahn durch die Stürme des politischen Lebens führt, sie ist gewandt und scharfblickend. Wenn Ihre Geschicke sich vereinigen sollten, würde sie glücklicher sein, als es ihre Mutter war. So erwürben Sie das Recht, mein Werk in Clochegourde weiterzuführen, Sie würden die Fehler wieder gutmachen, die wir vielleicht noch nicht genug gesühnt haben, obwohl sie im Himmel und auf Erden verziehen sind. Denn Er ist großmütig. Er wird mir verzeihen. Sie sehen, ich bin immer noch selbstsüchtig. Aber ist das nicht der Beweis einer tyrannischen Liebe? Ich will von Ihnen in den Meinen geliebt werden. Da ich nicht Ihr eigen habe sein können, vermache ich Ihnen meine Gedanken und meine Pflichten! Wenn Sie mich zu sehr lieben, um mir zu gehorchen, wenn Sie Madeleine nicht heiraten wollen, so sorgen Sie wenigstens für die Ruhe meiner Seele, indem Sie Monsieur de Mortsauf so glücklich machen, wie er es sein kann.
Leb wohl, geliebtes Kind meiner Seele! Dies ist mein völlig bewußter, lebendiger Abschiedsgruß, der Abschied einer Seele, die Du mit zuviel Glück erfüllt hast, als daß Du Gewissensbisse haben könntest über die Katastrophe, die ebendies Glück nach sich gezogen hat. Ich brauche dieses Wort, weil ich weiß, daß Sie mich lieben, denn ich gehe nun in die Ruhe ein, ein Opfer der Pflicht, und – das macht mich erbeben – nicht ohne Bedauern. Gott wird besser als ich wissen, ob ich seinen heiligen Gesetzen dem Geiste nach gehorcht habe. Ich bin wohl oft gestrauchelt, aber ich bin nicht gefallen, und die stärkste Entschuldigung für meine Fehler liegt in der Größe der Versuchungen, die mich umringten. Der Heiland wird mich zitternd vor sich sehen, als sei ich unterlegen. Nochmals: Leb wohl! Ein Lebewohl, wie ich es gestern unserm schönen Tale gesagt habe, unserm Tale, an dessen Herz ich bald ruhen werde und in das Sie tot zurückkehren wollen, nicht wahr?
Henriette.‹
Ich verfiel in abgründige Träumerei, als ich die unbekannten Tiefen dieses Lebens von einem letzten Feuerschein grell erleuchtet sah. Die Wolken meiner Selbstsucht zerteilten sich. Sie hatte also ebensoviel, ja mehr als ich gelitten, denn sie war daran gestorben. Sie glaubte, jedermann müsse ihrem Freunde gütig gesinnt sein; ihre Liebe hatte sie so geblendet, daß sie die Feindschaft ihrer Tochter gegen mich gar nicht ahnte. Dieser letzte Beweis ihrer Zärtlichkeit tat mir sehr weh. Arme Henriette, die mir Clochegourde und ihre Tochter vermachen wollte!
Natalie, nach jenem furchtbaren Tage, wo ich zum ersten Mal einen Friedhof betrat und die sterbliche Hülle der edlen Henriette begleitete, die Sie nunmehr kennen, seit jenem Tage scheint mir die Sonne weniger warm, sie leuchtet gedämpft, die Nächte sind düster, die Bewegung ist weniger frei, das Denken drückender. Es gibt Menschen, die wir in der Erde begraben; aber andere, die wir besonders zärtlich lieben, sind in unser Herz wie in ein Leichentuch gebettet, die Erinnerung an sie mischt sich täglich in unser Tun und Trachten; wir denken an sie, wie wir atmen, sie haben in unserer Seele eine neue Gestalt angenommen nach dem süßen Gesetz der Seelenwanderung, das im Reich der Liebe herrscht. In meiner Seele wohnt eine zweite Seele. Sooft ich etwas Gutes tue, ein schönes Wort spreche, redet und handelt diese Seele in mir. Was ich nur Gutes haben kann, entströmt diesem Grabe wie einer Lilie der Duft, der die Luft durchhaucht. Die Spottlust, das Schlechte, alles, was Sie an mir tadeln, rührt von mir selbst her. Wenn meine Augen sich umwölken und gen Himmel schauen, nachdem sie lange an der
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