Die Lilie im Tal (German Edition)
verleugnen; ich hätte mich sehr unwohl gefühlt zwischen dem Comte, der nur von sich selbst sprach, und Madeleine, die mir einen unüberwindlichen Widerwillen gezeigt hätte, und das an dem Ort, wo einst die Blumen selbst mich gekost hatten, wo jede Stufe beredt war, wo meine Erinnerungen Balkone, Balustraden und Terrassen, Bäume und Aussichtspunkte mit Poesie umrankten ... Gehaßt werden, wo mich alles geliebt hatte: der Gedanke war mir unerträglich. Auch war mein Entschluß sofort gefaßt. Das war also das Ende der größten Liebe, die je ein Menschenherz erfüllt hatte. In den Augen Fremder war mein Verhalten tadelnswert, aber mein Gewissen rechtfertigte es ... So enden die schönsten Gefühle und die größten Dramen der Jugend. Wir brachen fast alle in der Morgenstunde auf, in der ich damals von Tours kam. Wir bemächtigten uns der Welt mit liebedurstigem Herzen, und wenn unsere Schätze im Tiegel geschmolzen sind, wenn wir Menschen und Ereignisse aus der Nähe gesehen haben, schrumpft unmerklich alles zusammen, wir finden wenig Gold in viel Asche. Das ist das Leben, das wirkliche Leben: große Ansprüche, kleine Ereignisse. Ich sann lange über mich selbst nach, was ich tun sollte nach diesem Schicksalsschlag, der meine ganze Ernte zerstört hatte. Ich beschloß, mich in die Händel der Politik und der Wissenschaft zu stürzen, die gewundenen Pfade des Ehrgeizes einzuschlagen, die Frau aus meinem Leben zu verbannen, ein kalter, leidenschaftsloser Staatsmann zu sein und der Heiligen, die ich geliebt hatte, treu zu bleiben. Meine Gedanken verloren sich in Weiten, während meine Blicke an dem herrlichen Laubwerk der übergoldeten Eichen mit ihren strengen Kronen und ihrem bronzenen Stamm hafteten. Ich fragte mich, ob Henriettes Tugend nicht Unwissenheit und ob ich wirklich an ihrem Tode schuld sei. Schließlich, an einem milden Herbstmittag, wie es in der Touraine so schöne gibt, bei einem letzten Lächeln des Himmels, las ich ihren Brief, den ich ihrem Wunsche gemäß erst nach ihrem Tode öffnen sollte. Sie werden sich denken können, was ich beim Lesen empfand!
Der Brief der Madame de Mortsauf an den Vicomte Felix de Vandenesse
›Felix, allzu geliebter Freund, ich muß Ihnen jetzt mein Herz eröffnen, weniger um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie liebe, als um Ihnen Ihre Verpflichtungen klarzumachen, indem ich Ihnen die tiefen, schweren Wunden zeige, die Sie mir geschlagen haben. Jetzt, wo ich von Wegmüdigkeit übermannt hinsinke, erschöpft von den Wunden, die ich im Kampf empfangen habe, ist die Frau in mir zum Glück gestorben, die Mutter allein lebt noch. Sie werden sehen, Lieber, daß Sie die erste Ursache meiner Leiden waren. Erst bot ich mich willig Ihren Schlägen dar, jetzt sterbe ich an einer letzten Wunde von Ihrer Hand. Aber es liegt eine unermeßliche Wollust darin, sich vom Geliebten vernichtet zu fühlen. Bald werden mich die Schmerzen wohl aller Kraft berauben; ich nutze darum die letzten lichten Momente, die meinem Geist beschieden sind, um Sie nochmals anzuflehen, meinen Kindern das Herz zu ersetzen, das Sie ihnen geraubt haben. Ich würde Ihnen diese Pflicht gewaltsam aufzwingen, wenn ich Sie weniger liebte; aber Sie sollen sie lieber freiwillig auf sich nehmen, aus einem Gefühl frommer Reue und auch, damit unsere Liebe nicht aufhöre. War nicht die Liebe in uns stets mit Bußgedanken und sühnender Furcht verquickt? Und ich weiß: wir lieben einander noch. Ihre Schuld ist an und für sich weniger verhängnisvoll, als sie es durch den Widerhall in meiner Seele geworden ist. Sagte ich Ihnen nicht, ich sei eifersüchtig, zum Sterben eifersüchtig? Nun denn, ich sterbe ... Aber trösten Sie sich: wir haben den menschlichen Gesetzen genuggetan. Die Kirche hat mir durch einen ihrer edelsten Vertreter gesagt, daß Gott Nachsicht gegen die üben werde, die ihre angeborenen Neigungen seinem Gesetze geopfert haben. Geliebter, Sie sollen alles wissen! Denn ich will nicht, daß Ihnen ein einziger meiner Gedanken verborgen bleibe. Was ich Gott in meinem letzten Augenblick anvertrauen werde, das sollen auch Sie wissen, der Sie König sind über mein Herz. Bis zum Fest zu Ehren des Duc d'Angoulême (meinem einzigen Feste) hatte mich die Ehe in der vollständigen Unwissenheit gelassen, die der Seele der Jungfrau engelhafte Schönheit verleiht. Zwar war ich Mutter, aber die Liebe hatte mich ihre erlaubten Freuden nicht kosten lassen. Wie war das möglich? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wieso
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