Die Loge der Nacht
oder unterwegs erwarb, ist aufgebraucht, der Berg an Jahren, die ich stahl, abgetragen. Doch in mir ist ein Sträuben, meinen Aufenthalt in Morlaix, den ich bis zum späten Frühling oder beginnenden Sommer vorgesehen habe, gleich wieder mit solch grobem Diebstahl zu beginnen. Die Menschen, die ich hier treffe, werden einfach und dennoch wertvoll sein. Vielleicht erhöht gerade der Verzicht, mit dem sie hier zu leben haben, ihren Wert.
Ich will sie mir zum Vorbild nehmen und mich im Neinsagen üben, was mir jedoch um so schwerer fallen wird, da ich - im Gegensatz zu ihnen - die Verlockung täglich vor mir sehe.
Die Stimme, die von Tag zu Tag schwächer in mir wird, fordert gewiß, daß ich auch diese Menschen ausplündern soll bis aufs letzte. Einen nach dem anderen soll ich ins Grab zwingen, um nur selbst jede Stunde in rauschhafter Ekstase zu verleben .
Nein!
Ich schreie es in die Abgründe meiner Seele, die finsterer sind als die zwischen den Klippen!
Was ist geschehen, als ich in Prag war? Versetzte ich wirklich andere Menschen durch meine bloße Nähe in solche Tobsucht und Rage, daß sie einander die Schädel einschlugen oder sich Klingen ins Herz stachen?
Meine Erinnerungen daran sind wie vom Regen aufgeweichte Malereien. Ich sehe nichts mehr klar, was einmal war, nur noch verwa-schen, unkenntlich gemacht und überstrichen von jedem frischen Erlebnis.
War ich überhaupt jemals in Prag?
Ich entsinne mich kaum, was mir dort widerfuhr - und wem ich widerfuhr. Schattenhaft sehe ich mich in einem Kerker. Wie ich daraus freikam, weiß ich nicht. Auch nicht, was ich dann tat ... Cees ... War da nicht Cees, der mich auf staubiger Straße auflas und zur Herengracht brachte?
Was passiert mit mir? Habe ich nicht nur Wissen und Gewißheit verloren, woher ich stamme und wer ich bin? Wird mir nun auch, schleichend wie ein Gift, jede neue Erinnerung ausgewischt und fortgenommen?
Wenn das stimmt, will ich noch heute sterben, mich hinabwerfen in die weiße Gicht, die seit ewigen Zeiten unter dem Horst von Mor-laix im Donner der Brandung schäumt ...!
Immer noch zu Fuß, das Pferd am Halfter, halte ich Einzug in die Fremde von Morlaix, einem Ort, von dem ich nicht weiß, wie er mich empfangen wird.
Ich bin noch nicht weit gekommen, als mir meine Sinne - wohl von der Anstrengung des Aufstiegs - schwinden und ich mitten auf der Straße zusammenbreche.
Ich höre noch das Wiehern meines Pferdes. Dann verschlingt mich die Ohnmacht, und erst im nachhinein erfahre ich, daß mir auch mit Vorsatz wohl kein besserer Einstand hätte gelingen können .
*
Aus traumloser Tiefe treibt mein Bewußtsein wie durch einen finsteren Tunnel hin zum Licht. Als die Helligkeit explodiert und sich zu einem Bilde fügt, liege ich auf einem Lager aus Stroh und Decken. Neben mir kniet eine Frau, so alt, daß es ohnehin nicht lohnte, ihr eines ihrer kommenden Jahre zu stehlen, die sie vielleicht schon gar nicht mehr in sich birgt.
Sie lächelt, als müßte sie mich beruhigen. Doch ich bin ganz entspannt, ganz kühl aus tiefstem Kern heraus.
Schon nach wenigen Worten, die wir austauschen, wird uns klar, daß wir einander nicht verständlich machen können. So wenig ich ihre Sprache verstehe, kennt sie die meine. Das einzige, was uns keine Mühe macht, ist der Austausch unserer Namen: Lydia - so nannte mich Cees, weil ich nicht einmal weiß, worauf ich getauft wurde - und Juliette (was aus greisen Mund klingt, als ginge ein Hauch von Frühling damit einher, gerade so, als wollte ihr Name mich gemahnen, daß auch diese Alte einst ein junges, hübsches Ding gewesen sei).
Juliette wohnt allein in einem kleinen Häuschen direkt am Abgrund zur tosenden See hin. Sie hat sich meiner angenommen, nachdem Männer mich von der Straße aufgehoben, aber nicht so recht gewußt hatten, wie sie weiter mit mir umgehen sollten.
Eine Frau auf Reisen, zu der keine Familie des Dorfes verwandtschaftliche Bande fühlte, das hat verständliches Mißtrauen und in manchem Fall auch Ablehnung geweckt.
Juliette hat ihre Hand schützend über mich gehalten, doch das erfahre ich erst nach und nach in den nun folgenden Tagen, da sich eine Verständigung zwischen uns anbahnt.
Zunächst pflegt sie mich und gibt mir mehr Essen als sich selbst. Was für eine gute Seele. Wenn sie wüßte, welches Monster sie beherbergt!
Aber bin ich wirklich eines? Ist der dunkle Trieb nicht ein Fluch, so daß auch ich als Opfer gelten darf? Und bekämpfe ich ihn nicht, wo immer ich es
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