Die Loge der Nacht
trefflich, aber ich kenne sie nun schon zu gut, um mich davon täuschen zu lassen. Sie ist nicht mehr so rüstig, wie sie sich den Anstrich gibt. Von Tag zu Tag nehmen die Wehwehchen zu.
Wenn ich ihr doch helfen könnte!
Oder kann ich es?
Der Gedanke, die in mir schlummernde Diebin, den lebenfressenden Moloch doch noch einmal zu erwecken, treibt mir den Schweiß aus den Poren - obwohl es für einen gutgemeinten Zweck wäre. Von den jungen Dörflern könnte jeder den Verlust einiger Monate leicht verschmerzen; es würde ihnen gar nicht auffallen. Und Juliette würde all ihrer Schwäche ledig, falls es mir gelänge, die gestohlene Zeit auf sie zu übertragen .
Noch schreckt mich der Gedanke selbst, aber wenn ich noch lange zaudere, ist es vielleicht zu spät, und einmal tot, vermag auch ich ihre Uhr nicht neu in Gang zu setzen!
Blitze hellen das Innere des Hauses auf. Davids Augen sind offen wie die meinen. Nur Juliette liegt mit geschlossenen Lidern da, gleichwohl auch sie nicht schlafen kann.
Der Arm, der meinen Sohn bettet, beweist mir, wie menschlich ich geworden bin. Nur verschwommen erinnere ich mich selbst daran, daß meine Haut einst durchscheinend war.
Das ist vorbei.
Soll ich den Frieden, den ich mit mir gemacht habe, trotzdem aufs Spiel setzen? Wer weiß schon, was geschieht, wenn das gefräßige Tier in mir wieder »Blut leckt«?
»Juliette?«
Leise erreicht meine Stimme ihr Ohr - zwischen zwei Donnerschlägen.
Juliette reagiert sofort, sieht mich an. »Was ist, mein Kind?«
Sie nennt mich ebenso Kind, wie sie es mit David tut.
Ich öffne die Lippen, aber keiner der Sätze, die ich angedacht habe, verläßt meinen Mund. Ich kann es nicht. Ich kann sie nicht fragen, was sie davon halten würde, ein Geschenk wie das, das mir im Hirn herumspukt, zu erhalten. Und während ich sie anschaue, wiederum im blitzenden Sturm, wird mir klar, daß sie es nie annehmen würde. Sie ist viel zu stolz für Almosen, ganz egal in welcher Form!
»Ach, nichts«, wiegele ich ab und schäme mich.
An David suche ich Halt, denn Juliette läßt mich auch jetzt nicht aus den Augen. Ich spüre ihre Blicke. Mir ist, als wüßte sie, was ich ihr um ein Haar angeboten hätte.
Meine früher kleinen Brüste sind immens geschwollen und fangen augenblicklich vom Milcheinschuß zu schmerzen an, als David energisch zu zappeln beginnt. Gerade will ich mir das kleine Bündel anlegen, als Juliette mit heiserer Stimme sagt: »Gib ihn mir. Von nun an werde ich ihn säugen.«
Jener Blitz, der ihre Worte begleitet, scheint nicht mehr enden zu wollen. Dauerhaft erhellt er die Stube. Das Lager.
Uns.
Juliette sieht mich unverwandt an, und da begreife ich, daß sie keinen Scherz treibt. Es ist ihr ganz und gar ernst mit ihrem Anerbieten!
David wird noch unruhiger. Der arme Wurm beginnt zu schreien. Er riecht die Milch, die er längst bekommen hätte, wäre da nicht - »Gib ihn her!«
Schroff kommt der Befehl. Daß es einer ist, daran hege ich keinen Zweifel mehr, erst recht nicht, als Juliettes magere Gestalt sich aufbläht, als stieße jemand solch fürchterlichen Atem hinein, daß ein Menschenkörper aus den Fugen geraten muß.
»Julie-«, setze ich noch an.
Da platzt die angespannte Haut, und stinkend schält ER sich aus der Maske, die er sich - wie lange schon? - übergestülpt hat, um mich zu täuschen und jetzt in lähmende Erniedrigung zu stürzen.
Und um mir zu nehmen, worauf ich längst nicht mehr verzichten kann - und will!
Ich liege im Stroh und sehe ihn kommen. Den, der mir Juliette vorgaukelte. Juliette, die es in Wirklichkeit vielleicht nie gab .? Oder die umgebracht und irgendwo verscharrt wurde?
Der Blitz - oder was immer es ist - erhellt die Szene noch immer schattenlos. Geschliffen scharf prägt sich mir jedes Detail ein.
ER gleitet auf mich zu. Streckt die Hand aus und berührt mich. Wie damals im Kerker!
Die Hand, die mein Kinn umspannte. Die Berührung, zart wie ein Schmetterlingsflügel...
Und dann ertönt die Stimme, die sich verändert hat, weil sie nicht mehr Juliettes Mund, sondern einem sinnlich verdorbenen entspringt, der schon einmal zu mir sprach. Der Mund, der nie ein lautes Wort verliert und doch jeden Widerspruch im Keim ersticken kann!
»Du hast dich nicht entwickelt, wie ich hoffte«, sagt die Stimme.
»Du mußt aufhören, dich gegen die Saat, die ich in dir kultivierte, zu wehren. Du mußt hier und heute damit aufhören, denn ich werde nicht länger auf dich achtgeben.«
Achtgeben?
Ich
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