Die Ludwig-Verschwörung
nickte und starrte weiter auf den hageren geschminkten Fremden, der nun ein langes rotes Tuch aus seinem Hut hervorholte. »Ziemlich sicher.«
»Dann sollten wir schleunigst herausfinden, was er will«, flüsterte Sara. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir gehen durch den Park und schauen, ob er uns eventuell folgt. Vielleicht bekommen wir so mehr über seine Absichten heraus.«
Sie packte Steven am Ärmel, und gemeinsam flanierten sie auf das große Bassin zu, aus dem in regelmäßigen Abständen eine gigantische Wasserfontäne schoss. Hier waren nur noch wenige Menschen unterwegs. Steven blickte sich um, doch der Zauberer war mittlerweile hinter dem Festzelt verschwunden. Leise wehte Vivaldis ›Herbst‹ zu ihnen herüber.
»Vielleicht habe ich mich auch getäuscht«, sagte Steven nachdenklich und atmete tief durch. »Langsam bekomme ich wirklich einen Verfolgungswahn.«
»Machen Sie sich nichts draus.« Sara grinste ihn an. »Bei älteren Menschen passiert das manchmal.«
»Sehr witzig, Frau Lengfeld. Wirklich sehr witzig. Er hat mich angestarrt, das weiß ich ganz sicher!«
»Herr Lukas, wenn ich jeden, der mich anstarrt, für einen potentiellen Verbrecher halten würde, wär ich nur noch am Davonlaufen. Vielleicht findet er Sie mit Ihrer schicken Silversurfer-Maske auch einfach nur schnucklig, hm?«
»Himmelherrgott, können Sie nicht einmal Ihr vorlautes Mundwerk im Zaum halten!«
Ärgerlich riss sich Steven die Maske vom Gesicht und stapfte durch den Park in Richtung des Venustempels, der über den Gartenterrassen auf einem Hügel lag. Er wollte allein sein. Die ganze Situation überforderte ihn völlig, so ein Leben war er nicht gewohnt. Vor drei Tagen noch war sein größtes Abenteuer ein vollständig erhaltenes Grimm’sches Märchenbuch von 1837 gewesen, und nun fühlte er sich von Kapuzenmännern und weiß geschminkten Zauberkünstlern bedroht. Wenn er nicht aufpasste, wurde er bald ebenso verrückt wie dieser Ludwig, der in Muschelbooten dümpelte und auf Bäumen frühstückte.
Dieses ganze Tagebuch war doch eine einzige Farce! Vermutlich hatte Theodor Marot nur irgendwelche Buchstaben hingekritzelt, um seinem Geschreibsel eine mysteriöse Note zu geben. So wie es zurzeit aussah, drohte das Buch ohnehin in eine kitschige Romanze abzugleiten. Liebesschwüre in den Stamm einer Linde zu ritzen! Das war so ziemlich das Gegenteil von dem, was Steven von dem Tagebuch erhofft hatte. Romantische Bekenntnisse eines akademischen Spätpubertierenden!
Die Linde …
In seinem Zorn war der Antiquar weitergestapft, ohne nach links und rechts zu blicken, und stand nun direkt vor dem mächtigen Baum, dessen Blätter leise im Wind rauschten. Er sah an dem hohen Stamm hoch und versuchte sich vorzustellen, wie Marot hier vor über hundert Jahren mit dem König gespeist hatte, wie er Maria getroffen und schließlich ihren Namen in die Rinde geritzt hatte.
Eine leise Ahnung stieg in ihm auf. Konnte es sein, dass der Name noch immer zu sehen war? Oder hatte Marot sich die ganze Liebesgeschichte nur ausgedacht? Steven trat näher an den Stamm heran. Die Scheinwerfer vor dem Festzelt waren so hell, dass sie den weit entfernten Baum noch matt anstrahlten. Der Antiquar umrundete die Linde und wischte ein paar Spinnweben und eine Handvoll trockenes Laub fort, das hartnäckig an der Rinde klebte. Plötzlich fuhren seine Finger in Brusthöhe über Kerben, die einzelne Buchstaben und Zahlen bildeten. Sie waren verwittert und verwachsen, doch auch nach beinahe drei Menschenleben noch immer gut zu lesen.
MARIA 10. 9. 1885
Die plötzliche Erkenntnis traf Steven wie ein Schlag.
Sara sah Steven Lukas im Dunkel der Gartenterrasse verschwinden und schüttelte den Kopf.
Männer waren manchmal so kompliziert! Sie war schon des Öfteren mit ihren Sprüchen beim anderen Geschlecht angeeckt. Meistens konnten es ihre zeitweiligen Liebhaber nicht verkraften, dass sie schneller von Begriff war und sich nicht unterordnete. Auch bei ihrem letzten Freund David war das so gewesen. Gerade ein halbes Jahr hatte die Beziehung gehalten, dann waren ihr seine hohlen Sprüche zunehmend auf die Nerven gegangen – und er selbst hatte in einem kurzen Anfall von Scharfsinn ihre Schweigsamkeit, ihr schmales Lächeln und ihre hochgezogenen Augenbrauen richtig gedeutet und war aus ihrem Leben verschwunden. Wahrscheinlich trieb sich David mittlerweile in irgendwelchen Londoner Clubs herum, wo er sich von dummen Flittchen anschmachten ließ
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