Die Lüge
aus dem Wagen geworfen. In der Dunkelheit bin ich ein paar Mal hingefallen.» Damit erklärten sich ihre völlig verdreckte Kleidung und die zerrissenen Strümpfe, nicht die Würgemale. Marlene Jaeger warf einen viel sagenden Blick auf den Kragen der schmutzigen Bluse. Aber sie schwieg.
«Wenn Sie mich bei einer Telefonzelle absetzen, mir mit ein bisschen Kleingeld aushelfen und mir sagen, wo wir sind, reicht das schon.»
«Wenn Sie mir jetzt noch erzählen, dass Sie Ihren Mann anrufen wollen, damit er sie abholt …»
«Nein. Nicht meinen Mann, einen Freund.»
«Ach so», sagte Marlene Jaeger verstehend. Zu einer Telefonzelle fuhr sie nicht, nahm sie mit zum Haus ihrer Eltern. Dort gab es ein Telefon und heißen Tee.
Sie konnte nicht frei sprechen, Dieter ebenfalls nicht. Trotzdem verstanden sie einander besser als in den Jahren ihrer Ehe. Dieter ließ sich von Marlene den Weg beschreiben und war eine Stunde später da. Er wollte sie zu einem Arzt bringen. Sie einigten sich darauf, dass er sie erst einmal mit heim nahm und Wolfgang Blasting anrief. Letzteres konnte sie ihm später noch ausreden.
Sie trat Ramie als Nadia Trenkler gegenüber. Sämtliche Erklärungen übernahm Dieter. Er besänftigte das Misstrauenseiner Frau bei ihrem Anblick so weit, dass Ramie ihr ein heißes Bad anbot und zum Frühstück eine Hühnersuppe, weil das Schlucken so beschwerlich war. Ramie stellte ihr auch eine Jeans und einen Rollkragenpullover, dicke Wollsocken und ein Paar Halbschuhe zur Verfügung. Nichts davon passte richtig, aber das störte nicht.
Das Gefühl der eisigen Kälte haftete nach wie vor in den Gliedern, und sie war sicher, dass es sich nie wieder verlieren würde. Dabei verstand sie Michaels Reaktion irgendwie. Er hatte ihr in den vergangenen Wochen mehr als einmal gezeigt, was Nadia ihm bedeutete. Nur änderte das nichts an ihren Empfindungen. Dieters Lichtstrahl spielte zu ihren Füßen. Und Michael hätte nicht nur sie, er hätte auch ihr Kind umgebracht – und seines! Dafür wollte sie ihn hassen, aber sie schaffte es nicht.
Es gelang Dieter nicht, Ramie zu einem längeren Einkaufsbummel zu bewegen. Damit war es unmöglich, offen zu sprechen. Irgendwann bat sie ihn, er möge sie heimfahren.
«Auf keinen Fall», sagte Dieter.
«Es muss sein», beharrte sie, kümmerte sich nicht länger um Ramies aufmerksame Ohren. «Ich muss das Geld holen, ich muss zu Wolfgang, ich muss zum Flughafen. Ich muss mir doch wenigstens Zurkeulen vom Hals schaffen.»
Dieter zeigte aufs Telefon. «Verschieben Sie den Termin. Rufen Sie Herrn Blasting an und erklären Sie ihm die Situation.»
Sie hielt beides für keine gute Idee, rief stattdessen im Labor an und erfuhr von Kemmerlings blutjunger Freundin, Michael sei in einer Besprechung. Dieter kapitulierte. Erst auf der Autobahn fiel ihm ein: «Du kommst doch gar nicht ins Haus.»
«Jo hat immer noch einen Schlüssel.»
Aber Jo war nicht daheim, Lilo auch nicht. Dieter steuertedie Tankstelle an, machte sich im Telefonbuch kundig, wo er die Galerie Henseler suchen musste, und fuhr weiter. Es ging inzwischen auf drei zu. Die Zeit wurde knapp.
Lilo freute sich über ihr unverhofftes Auftauchen in der Galerie, wunderte sich über ihre seltsame Aufmachung, wollte ihr unbedingt eine Neuerwerbung zeigen und begriff erst nach etlichen Minuten, dass dafür keine Zeit war. Dann händigte Lilo ihr den eigenen Hausschlüssel aus, nannte ihr die Kombination der eigenen Alarmanlage und einen ungefähren Anhaltspunkt, wo Jo ihren Hausschlüssel aufbewahren könnte, und überließ ihr auch noch den Wagenschlüssel. «Aber du fährst zuerst zu Wolfgang, Liebes. Kann ich mich darauf verlassen?»
«Natürlich», sagte sie. «Er wartet ja auf mich und ist bestimmt schon nervös.»
Es war keine Zeit mehr für Wolfgang. Sie bat Dieter, vorauszufahren zum vereinbarten Treffpunkt und Zurkeulen dort irgendwie festzuhalten. «Fahr ihm in den Wagen, wenn es nicht anders geht. Ich kaufe dir ein neues Auto. Aber mach ihm um Himmels willen klar, dass ich mit dem Geld auf dem Weg zu ihm bin.»
Lilos Wagen war erheblich wendiger als Dieters Kombi, aber nicht so schnell wie der Alfa. Mit Jos eigener Alarmanlage hatte sie keine Probleme. Nur die Suche nach dem Schlüssel gestaltete sich etwas schwieriger, weil sie sich im Haus nicht auskannte. Aber schließlich fand sie das von Lilo bezeichnete Schränkchen neben einer Werkbank im Keller, der Schlüssel lag, wie Lilo vermutet hatte, im zweiten
Weitere Kostenlose Bücher