Die Lüge
vergaß sie. Neben dem Alfa blieb sie stehen und versuchte, sich zu orientieren. Er verriegelte den Wagen und verschwand zwischen den Bäumen. «Warte», rief sie und stolperte hinter ihm her einen schmalen Trampelpfad entlang. «Warte doch, Michael, ich …»
Sie brach ab, als sie gegen ihn prallte. Er war am Rand einer kleinen Lichtung stehen geblieben. Und nirgendwo waren auch nur die Umrisse eines Gebäudes auszumachen. Die Panikerstickte sie fast. Aber etwas in ihr wollte nicht wahrhaben, dass er sie unter einem Vorwand aus dem Haus gelockt und aus einem ganz bestimmten Grund mit ihr an dieses einsame Fleckchen gefahren war. Und nicht aus einer spontanen Entscheidung. Er musste sich dazu bereits im Pool entschlossen haben.
«Hier ist doch kein Mensch», stammelte sie. «Ich glaube das auch nicht. Nadia war maßlos eifersüchtig. Sie wäre niemals mit dir irgendwohin gefahren, wo andere Frauen sind, mit denen …»
Er hatte sich zu ihr umgedreht, als sie zu sprechen begann. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Sie fühlte nur seine Hände um ihre Kehle. Er sprach nicht, er keuchte: «Richtig! Sie war maßlos eifersüchtig. Und da willst du mir erzählen, sie hätte mir eine andere Frau ins Bett gelegt? Du hast ihr diese Schweine auf den Hals gehetzt. Und wie hattest du es dir bei mir vorgestellt? Ich stehe da mit einer Wasserpistole, der Typ knallt mich ab, und du hast freie Bahn!»
In der Schwärze tauchten die ersten roten Flecken auf. Antworten konnte sie nicht mehr, auch nicht atmen. Sie griff zwar nach seinen Händen und versuchte, seine Finger zurückzubiegen. Aber ihre Finger rutschten nur ab. Die Bewegungen wurden schwächer. Er drückte zu, bis sie es nicht mehr fühlte.
Wie lange sie bewusstlos auf dem Waldboden am Rand der Lichtung gelegen hatte, konnte sie unmöglich bestimmen. Sie konnte nicht einmal abschätzen, wie lange sie noch lag, nachdem sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Das Atmen fiel ihr ungeheuer schwer und schmerzte. Ihre Kehle schien immer noch zusammengequetscht. Irgendwann juckte etwas an ihrer Wange. Ein Käfer krabbelte ihr übers Gesicht. Undendlich konnte sie eine Hand heben. Ein paar Minuten später schaffte sie es auch, sich aufzurichten, vorerst nur auf Hände und Knie.
Sie kroch auf dem Trampelpfad zurück zu dem unbefestigten Platz. Es war niemand mehr da, und sie wusste nicht, wo sie war. Der Kopf war immer noch nicht völlig frei. Alles drehte sich um die Tatsache, dass Michael sie hatte töten wollen, und um die Frage, ob er sie für tot gehalten hatte, als er sie zurückließ.
Auf dem Platz verharrte sie eine Weile. Zum ersten Mal registrierte sie die Kälte. Es war fürchterlich kalt. Sie trug nur einen Rock, eine Bluse und Perlonstrümpfe. Die Kostümjacke, die sie während der Fahrt nach Luxemburg getragen hatte, hing über der Stuhllehne im Arbeitszimmer. Es war mehr Instinkt als sonst etwas, der sie veranlasste, weiterzukriechen, sich irgendwann auf die Beine zu bringen, an den Stämmen entlangzutasten. Weiter! Noch ein Schritt und noch einer, in Bewegung bleiben, um nicht zu erfrieren. Irgendwann kam vielleicht jemand so wie damals in der Fabrikruine.
Es gab keine Penner im Wald, nur den eigenen Willen. Als die Bäume sich endlich lichteten, dämmerte es bereits. Im ersten schwachen Tageslicht war die Armbanduhr nicht abzulesen. Die Zeiger waren zu klein und das Glas von Erde verschmutzt. Vor ihr lag eine schmale Landstraße. Ob es die Straße war, auf der sie gekommen waren, wusste sie nicht.
Die Kälte war inzwischen bis tief in die Knochen gedrungen. Ihre Kehle schmerzte unverändert, die eisige Luft trieb den Schmerz tief in die Lungen. Endlich tauchten hinter ihr ein Paar Scheinwerfer auf. Der Wagen fuhr vorbei. Auch zwei weitere hielten nicht an, das tat erst der vierte, der ihr entgegenkam.
Am Steuer saß ein junges Mädchen, kaum älter als achtzehn. Marlene Jaeger – eine Schwesternschülerin auf demHeimweg in einem überheizten alten Auto mit einer Wolldecke auf der Rückbank. Irgendwie hatte sie doch jedes Mal Glück – als ob irgendwo im Universum ihr Vater darüber wachte.
Marlene Jaeger wollte sie unbedingt ins Krankenhaus schaffen. Sie wehrte ab. «Das ist nicht nötig. Ich habe einen wichtigen Termin. Den darf ich auf keinen Fall versäumen.»
Das Sprechen fiel schwer mit der wunden Kehle. Aber das Zähneklappern ließ bereits nach. «Wir hatten nur eine Auseinandersetzung, mein Mann und ich. Er hat mich
Weitere Kostenlose Bücher