Die Lüge
das richtige Alter für ein Kind gewesen. Doch Mutter zu werden war ihr nicht vergönnt, weil ihre Schwiegermutter nach einem Schlaganfall bettlägerig wurde und es ihren Mann kurz darauf als freien Journalisten in Krisengebiete zog. Dieter hatte vermutlich den Kleinkrieg daheim nicht ertragen.
Sechs Jahre lang hatte sie Haushalt und Garten versorgt und ihre Schwiegermutter durch romantische Berge, Tälerund die Schlösser der Fürsten gelesen, die sich in ihre Dienstmädchen verliebten. Dieter hatte währenddessen an vorderster Front die blutige Seite der Welt kennen gelernt und bei seinen seltenen Besuchen daheim regelmäßig festgestellt, dass sie allmählich völlig verblödete.
Als seine Mutter starb, hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Dieter hatte in einem Krisengebiet eine andere kennen gelernt: Ramie, eine Dolmetscherin, vierundzwanzig Jahre alt und bereits schwanger von ihm, als er sie mitbrachte. Susanne war vierunddreißig, kinderlos und überzeugt, nach sechs Jahren den Schock des Banküberfalls restlos überwunden zu haben.
Als sie so weit gekommen war, stieß Nadia verächtlich die Luft aus und meinte: «Es gibt wirklich elende Schmarotzer. Erst starten sie auf Kosten ihrer Frau eine Bilderbuchkarriere, dann ziehen sie ihr das letzte Hemd aus.»
«Das nun nicht», schwächte Susanne ab.
«Du sagtest doch, er war freier Journalist», stellte Nadia fest. «Wenn er nicht mehr gearbeitet hat, musstest du ihn doch finanziell unterstützen.»
«Nein», sagte sie. Dem Meinungsforscher hatte sie neulich etwas in der Art erzählt, doch daran dachte sie nicht mehr. «Ich hatte ja erst mal kein Einkommen. Er hat mir sogar freiwillig eine Abfindung gezahlt, damit ich mir eine Wohnung in der Stadt suchen und mich einrichten konnte.»
«Ach so», meinte Nadia. «Und seit der Scheidung hast du ihn nicht mehr gesehen?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Auch sonst keinen Kontakt, nicht mal ein Telefongespräch hin und wieder?», wollte Nadia wissen.
«Ich habe kein Telefon. Und wir hätten uns heute auch nicht mehr zu sagen als vor drei Jahren.»
Nadia nickte versonnen und schwieg. Nach einigen Sekundenerzählte Susanne weiter. Sie hatte sich nach der Scheidung mit Herzklopfen und einem Schlückchen Doppelkorn zur Beruhigung noch einmal bei ihrem früheren Arbeitgeber beworben. Ihr Vater hatte auf Doppelkorn in Stress-Situationen geschworen. Es wirkte auch bei ihr. Man stellte sie erneut ein – für drei Monate.
Der erste Monat verging mit Einarbeitung, es hatte sich einiges verändert mit den Jahren, alles wurde nur noch per Computer erfasst. Aber in der Bank kam sie damit zurecht – einigermaßen. Im zweiten Monat übernahm sie bereits wieder eine Kasse. Manchmal war sie nervös, schaute mehr auf die Eingangstür als auf ihre Hände. Zweimal fehlte abends Geld, und beim zweiten Mal war es eine größere Summe.
Sämtliche Buchungen wurden überprüft. Der Filialleiter war wie sie der Überzeugung, dass es sich bei den fünftausend Mark, die sie einem Sparkonto gutgeschrieben hatte, in Wirklichkeit um eine Abhebung handeln musste. Wahrscheinlich hatte sie nur auf die falsche Taste gedrückt. Sie setzten ihr Vertrauen in die Ehrlichkeit des Kunden, leider vergebens. Für den Schaden musste sie aufkommen. Das Geld sollte ihr in drei Raten vom Gehalt abgezogen werden. Doch dazu kam es nicht mehr.
Man versetzte sie von der Kasse an den Serviceschalter, wo sie die Kundenbetreuung übernahm. An einem Donnerstag ging sie mit einem älteren Herrn in den Keller. Er hieß Schrag, hatte ein Schließfach und kam regelmäßig am späten Donnerstagnachmittag, um etwas hineinzulegen oder herauszunehmen.
Herr Schrag war Inhaber eines Elektrofachbetriebs und bewegte sich damit am Rande des Existenzminimums. Auf seinen Konten sah es trübe aus. Ob es um sein Schließfach besser bestellt war, wusste niemand. An dem bewussten Donnerstag kam er mit einem braunen Umschlag vom Schließfachzurück, steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke, folgte ihr hinauf in die Schalterhalle.
Und da stand die Kassiererin mit bleichem Gesicht und räumte die Kassenfächer leer. Der Filialleiter und zwei ihrer Kollegen standen mit erhobenen Händen an den Schreibtischen, neben dem Filialleiter eine Gestalt von der Art, die sie vor Jahren mit einem Plastikding in Todesangst versetzt hatte. Und noch einmal wollte sie das nicht mit sich machen lassen.
Herr Schrag starrte den Maskierten an, öffnete den Mund, brachte nur ein Ächzen über die
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