Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Woche eine Tele wegen deiner Großmutter schicken. Gibt’s was Neues wegen Michelle?«
Scarlet biss die Kiefer aufeinander. Der Fall gilt hiermit als abgeschlossen . Die Wörter der Tele schwirrten ihr wie Hornissen durch den Kopf.
»Nichts«, sagte sie und versuchte gar nicht erst, die Rufe der Köche zu übertönen.
Emilie folgte ihr in den Lagerraum und setzte die Pastinaken ab. Scarlet beschäftigte sich mit den Kisten, damit die Kellnerin nicht versuchte, sie aufzuheitern, doch Emilie hatte schnell Trost parat: »Mach dir keine Sorgen, Scar. Sie kommt bestimmt bald zurück.« Und damit verschwand sie im Gastraum.
Scarlet tat der Kiefer weh, so fest biss sie die Zähne aufeinander. Alle sprachen vom Verschwinden ihrer Großmutter, als sei sie eine streunende Katze, die schon nach Hause kommen würde, wenn sie Hunger hätte. Mach dir keine Sorgen, Scar. Sie kommt bestimmt bald zurück.
Es waren jetzt aber schon mehr als zwei Wochen. Sie war einfach verschwunden – ohne eine Tele zu schicken, ohne sich zu verabschieden, ohne jegliche Nachricht. Sie hatte sogar Scarlets achtzehnten Geburtstag verpasst, obwohl sie schon die Zutaten für Scarlets geliebten Zitronenkuchen gekauft hatte.
Kein Landarbeiter hatte sie weggehen sehen, kein Arbeitsdroide hatte etwas Verdächtiges aufgezeichnet. Ihr Portscreen war noch da, aber weder in den Teles noch im Kalender noch in der Netz-Chronik ließ sich irgendein Anhaltspunkt finden. Allein, dass sie ihn nicht mitgenommen haben sollte, war verdächtig genug: Man ging doch nirgends ohne seinen Port hin.
Aber das war noch nicht das Schlimmste. Weder der zurückgelassene Portscreen noch der nicht gebackene Kuchen.
Scarlet hatte den ID -Chip ihrer Großmutter gefunden.
Ihren ID -Chip! In einem kleinen Päckchen auf der Arbeitsfläche der Küche in blutverschmiertem Käsepapier.
Der Kommissar hatte dazu nur lapidar bemerkt: Das machen die Leute nun mal, wenn sie nicht aufgespürt werden wollen – sie schneiden sich die ID -Chips heraus. Er sagte das, als hätte er das Rätsel gelöst, aber Scarlet war sich sicher, dass die meisten Entführer diesen Trick auch kannten.
2
Gilles war in der Küche und strich gerade Mayonnaise auf ein Schinkenbaguette. Als Scarlet nach ihm rief, sah er missgelaunt von der Arbeit auf.
»Ich bin fertig«, sagte sie und hielt seinem finsteren Blick stand. »Quittierst du mir die Lieferung?«
Gilles schaufelte einen Haufen Pommes frites neben das Baguette und stieß den Teller über den Edelstahltresen zu ihr hinüber. »Bring das zu Tisch eins, dann ist der Lieferschein fertig, wenn du zurückkommst.«
Scarlet fauchte: »Ich arbeite nicht für dich, Gilles.«
»Sei froh, dass ich dich nicht hochkant rausschmeiße!« Er drehte ihr den Rücken zu; sein weißes Hemd war über die Jahre vom Schweiß gelb geworden.
Scarlet juckte es in den Fingern. Zu gerne hätte sie ihm das Baguette an den Hinterkopf geworfen. Aber dann kam ihr das ernste Gesicht ihrer Großmutter in den Sinn. Sie wäre so enttäuscht, wenn sie nach Hause zurückkäme und erfahren müsste, dass Scarlet mit einem ihrer gefürchteten Wutanfälle den besten Kunden vergrault hatte.
Also schnappte sie sich den Teller und stürmte aus der Küche. Sie konnte gerade noch einem Kellner ausweichen, der ihr durch die Schwingtür entgegenkam. Das Gasthaus Rieux war kein gutes Restaurant – die Böden starrten vor Dreck, man saß auf harten Stühlen an billigen Tischen und der Geruch von ranzigem Fett hing in der Luft. Aber weil man im Ort nichts lieber tat, als zu trinken und zu tratschen, war der Laden immer voll, vor allem an Sonntagen, wenn die Tagelöhner von den umliegenden Bauernhöfen freihatten.
Während Scarlet sich einen Weg durch die Menge bahnte, fiel ihr Blick auf die Netscreens über der Bar. Auf allen dreien flackerten seit der vergangenen Nacht dieselben Nachrichten vom jährlichen Ball im Asiatischen Staatenbund, auf dem die Königin von Luna Ehrengast gewesen war. Ein Cyborg-Mädchen hatte sich unter die Gäste geschmuggelt und einen Kronleuchter in die Luft gesprengt. Ein Attentat auf die Königin der Lunarier – und vielleicht auch auf den kurz zuvor gekrönten Kaiser – war jedoch vereitelt worden. Und nun schien jeder eine andere Theorie zu vertreten. Auf den Nahaufnahmen sah man ein Mädchen mit dreckigem Gesicht und wirren nassen Haarsträhnen, die aus einem aufgelösten Pferdeschwanz fielen. Es war rätselhaft, wie sie sich in diesem Aufzug überhaupt
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