Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Herrin hatte in all den Jahren nichts von seinem Grauen verloren.
Ihre Bewegungen glichen einem präzise choreographierten Tanz, den sie in all den Jahren vervollkommnet hatte. Sie stellte sich vor, eine Ballerina aus der Zweiten Ära zu sein, die über das Halbdunkel einer Bühne flog, während die kleine Cress die Sekunden abzählte.
00.21 Auf den Knopf zum Herunterlassen der Matratze drücken.
00.20 Sich wieder zu den Schirmen umdrehen und alle Nachrichten über Linh Cinder unter Lagen von lunarischer Propaganda verstecken.
00.19 Die Matratze landet mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Kissen und Decke sind noch so zusammengeknüllt wie nach dem Aufstehen.
00.18 – 17 – 16 Mit tanzenden Fingerkuppen Nachrichten und Internetgruppen von der Erde wegklicken.
00.15 Eine volle Drehung. Nach den Ecken der Bettdecke suchen.
00.14 Eine lockere Bewegung aus den Handgelenken und die Decke bläht sich wie ein Segel in der Luft.
00.13 – 12 – 11 Die Laken glattziehen und sich den anderen Bildschirmen ihres Wohnraums zuwenden.
00.10 – 09 Spielfilme, Musik und Literatur aus der Zweiten Ära der Erde: weg damit.
00.08 Eine Pirouette zum Bett. Anmutiges Fallenlassen der Decke.
00.07 Zwei Kissen aufschütteln und symmetrisch am Kopfteil anordnen. Die Haarsträhne, die unter der Decke liegt, hervorziehen.
00.06-05 Eine Rutschpartie über den Boden im Zickzack, um alle Socken und Haarklemmen aufzusammeln und sie in den Wäscheschacht zu pfeffern.
00.04-03 Schreibtische abwischen, die einzige Schüssel, den einzigen Löffel, das einzige Glas in den Vorratsschrank stellen.
00.02 Ein letztes Herumwirbeln. Ein letzter Blick auf ihre Arbeit.
00.01 Erleichtertes Ausatmen, übergehend in eine anmutige Verbeugung.
»Die Herrin ist eingetroffen«, sagte die kleine Cress. »Sie wartet auf das Ausfahren der Andockrampe.«
Die Bühne, das Halbdunkel, die Musik – alles war wie weggeblasen, nur das geübte Lächeln blieb. »Selbstverständlich«, flötete sie und wandte sich zur großen Andockrampe. Es gab zwei Rampen an ihrem Satelliten, aber nur eine wurde benutzt. Cress war sich nicht einmal sicher, ob der gegenüberliegende Eingang überhaupt funktionierte. Beide Metalltüren führten zu einer Einstiegsluke. Und dahinter war nichts als das All.
Es sei denn, es war dort ein Beischiff gelandet. Das Beischiff der Herrin.
Cress tippte den Befehl ein. Auf dem Bildschirm erschien ein Diagramm, auf dem sich eine Rampe hervorschob. Sie hörte den Aufprall, als das Schiff andockte, gleichzeitig ging durch den Satelliten ein Ruck.
Was nun kam, kannte sie im Schlaf; sie konnte sogar vorhersagen, wie viele Herzschläge zwischen den vertrauten Geräuschen lagen. Wie die Motoren des kleinen Raumschiffs herunterfuhren. Wie die Luke mit einem »Klack« an das Raumschiff andockte. Das Zischen der Luftschleuse. Dann der Piepton zur Bestätigung, dass man nun zwischen beiden Einheiten wechseln konnte. Das Öffnen des Raumschiffs. Schritte, die im Verbindungsgang widerhallten. Das Rauschen der Tür zum Satelliten.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Cress auf Wärme und Freundlichkeit von der Herrin gehofft hatte. Darauf, dass Sybil sie einmal ansehen und sagen würde: »Meine liebe, süße Cress, du hast das Vertrauen und den Respekt Ihrer Majestät, der Königin, verdient. Deswegen darfst du jetzt auch als eine von uns mit mir nach Luna zurückkehren.«
Doch das war schon lange her und Cress’ geübtes Lächeln blieb selbst im Angesicht der Kälte ihrer Herrin unverändert. »Guten Tag, Herrin.«
Sybil schnaubte. Die bestickten Ärmel ihrer weißen Jacke breiteten sich über den großen Kasten in ihren Händen, in dem der übliche Proviant für Cress war: Essen und frisches Wasser und natürlich das Medikamententäschchen. »Dann hast du sie also gefunden?«
Bei Sybils eisigem Lächeln erschrak Cress. »Sie gefunden, Herrin?«
»Wenn es ein guter Tag ist, dann musst du wohl die einfache Aufgabe gelöst haben, die ich dir übertragen habe. Und hättest dich einmal als nützlich erwiesen. Also, Crescent, hast du den Cyborg gefunden?«
Cress senkte den Blick und grub die Fingernägel in die Handflächen. »Nein, Herrin, ich habe sie nicht gefunden.«
»Ich verstehe. Dann ist es also doch kein guter Tag.«
(…) Langsam atmete Cress aus.
»Ich darf aber doch sicherlich annehmen, dass du irgendetwas gefunden hast.«
Cress richtete sich auf. »Linh Cinder wurde gegen achtzehn Uhr Ortszeit in der Europäischen
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