Die Lust des Bösen
seine Triebfeder gewesen sein konnte.
Einen Moment lang hatte sie in sich hineingespürt und dort dieses sonderbare Gefühl vorgefunden: ein unangenehmes Ziehen in ihrem Bauch, ein Gefühl der Übelkeit, das in ihr hochgekrochen kam. Sie hatte eine ältere, voluminöse Frau gesehen, die seine Mutter gewesen sein musste. Ja, sie hatte fühlen können, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten, sie hatte jenen kalten Hauch gespürt, den er gefühlt haben musste. Lea hatte den Hass spüren können, den er jedes Mal beim Anblick seiner Mutter empfunden hatte. Mit jeder Faser ihres Körpers hatte sie wahrgenommen, wie sehr er unter dieser überaus dominanten Frau gelitten haben musste – so sehr, dass er sich wohl unbedingt von ihr als Verursacherin dieser Qual befreien wollte.
Immer tiefer hatte Lea sich in die Seele des Mörders ver senkt und hatte gefühlt, dass es mehr gegeben haben musste. Viel mehr! Etwas, das noch früher begonnen hatte. Vielleicht hatte er seine Aggressionen zunächst an Tieren ausgelebt und sie erst später gegen Menschen gerichtet. Möglicherweise waren die Morde an seinen Großeltern eine logische Folge dieser Entwicklung gewesen – und wahrscheinlich erst der Anfang einer langen Serie von weiteren Morden, bei denen er äußerst brutal und emotionslos vorgegangen war und seine Opfer vielleicht sogar zerstückelt hatte.
In ihrer Analyse hatte sie dann gemutmaßt, dass sich Keller nicht getraut hatte, seine Aggressionen gegen seine übermäch tige Mutter zu richten. Viel zu dominant und angsteinflößend war sie ihm erschienen. Möglich wäre es, dass er – nachdem er seine anfängliche Scheu und seine Angst durch den Mord an den Großeltern abgelegt hatte – sogar seine Mutter umgebracht haben könnte.
Professor Steiner war begeistert. Selten glaubte er, dass aus einer seiner Studentinnen einmal eine erfolgreiche Fallanalytikerin werden würde – aber bei Lea war er sich sicher.
»Das ist wirklich gut!«, hatte er ihr schließlich ehrlich seine Anerkennung gezollt.
Tatsächlich, bestätigte er dann wenig später, hatte das Unheil durch die Aggressionen, die Keller gegen seine dominante Mutter gehegt hatte, seinen Lauf genommen. »Vielleicht hätte man früher eingreifen können, aber niemand hat etwas getan oder ihn gestoppt.«
»Was glauben Sie?«, hatte er damals in den Saal gefragt. »Was taten die Behörden?«
Wiederholt hatte er Lea dann mit diesen Blicken gemustert, die es ihr schwer machten kühl zu bleiben. Sie spürte, dass da etwas Besonderes zwischen ihnen war. Er war ein attraktiver, intelligenter, geheimnisvoller Mann und noch dazu ihr Professor. Welche Studentin hatte damals nicht für einen ihrer Lehrer geschwärmt? Heute saß sie hier in der Bar, trank einen Schluck Wein und musste lächeln. Ja, sie hatte sich damals wohl wie ein verliebter Teenager verhalten. Er musste es bemerkt haben. Auch jetzt noch bekam sie weiche Knie, wenn sie an ihn dachte. Damals aber hatte sie sich bemüht, kühl und sachlich zu bleiben, hatte ihm mit festem Blick in die Augen gesehen und bekräftigt: »Vermutlich hat man den Täter in ein Hospital für geistes kranke Straftäter eingewiesen. Die Diagnose könnte ›emotional instabile Persönlichkeitsstörung in Kombination mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung‹ gewesen sein.«
»Genau das passierte!«, hatte der attraktive Hochschullehrer bestätigt, während er sich wieder dem Rest der Gruppe zuwandte. »Und dann geschah das Unfassbare: Man entließ ihn im Alter von zwanzig Jahren gegen den Rat staatlicher Psychiater und gab ihn in die Obhut von – na, was glauben Sie?«
Er hatte Lea auffordernd angesehen.
»Keine Frage«, hatte sie keck geantwortet, »in die Obhut seiner Mutter.«
»Richtig! Volltreffer! Etwas Schlimmeres hätte man ihm eigentlich nicht antun können. Zwei Jahre lang ging das gut, er hatte alle möglichen Jobs. Aber dann brach durch, was so lange in ihm geschlummert hatte, und forderte seinen Tribut: Er fuhr mit seinem Wagen auf Landstraßen und Autobahnen herum und machte es sich zur Gewohnheit, junge Anhalterinnen aufzugabeln, was ja an sich eine ganz erquickliche und abwechslungsreiche Beschäftigung als junger Mann sein kann.«
Das Auditorium hatte gelacht.
»Schließlich, meine Damen und Herren«, hörte sie noch immer seine Worte und diese warme Stimme, »nahm er zwei Freundinnen mit. Er fuhr mit ihnen in eine abgelegene Gegend.«
Und nun wollte Steiner wissen, ob und wie er sie wohl getötet
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