Blueten-Trilogie 03 - Fliedernachte
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Leise ächzend und stöhnend machte sich das alte Gebäude für die Nacht bereit. Seit über zwei Jahrhunderten ragten die steinernen Mauern am Marktplatz von Boonsboro in den sternenübersäten Himmel. Sogar an der belebten Kreuzung war inzwischen Stille eingekehrt, die Straßen lagen im Wechselspiel von Licht und Schatten da, und die an der Hauptstraße gelegenen Läden und Wohnungen dösten friedlich in der milden Sommernacht.
Sie sollte dasselbe tun, dachte Hope. In ihre Wohnung gehen, sich in ihrem Bett ausstrecken. Schlafen.
Das wäre vernünftig, und eigentlich war sie eine vernünftige Person, doch trotz des langen Arbeitstags war sie nicht müde. Zudem musste sie am nächsten Morgen nicht allzu früh raus, weil Carolee sich um das Frühstück für die Gäste kümmern würde.
Vor allem war kaum Mitternacht vorbei. Früher, während ihrer Zeit in Washington, hatte sie es kaum jemals so früh ins Bett geschafft. Kein Wunder, denn beim Wickham im Stadtteil Georgetown handelte es sich um ein erheblich größeres Hotel, dessen Leitung mehr Anforderungen stellte als ein Haus wie das BoonsBoro Inn, ein durchaus exquisites, luxuriöses Boutiquehotel, von Größe und Service indes eher einem Bed & Breakfast vergleichbar.
Noch etwas war anders: Wenn sie in der Hauptstadt spätabends Lust auf Zerstreuung verspürte, gab es dort genug Möglichkeiten. In einer Kleinstadt wie Boonsboro hingegen nicht. Am Fuß der Blue Ridge Mountains in Maryland gelegen, bot der Ort zwar jede Menge Geschichtliches wie Schlachtfelder des amerikanischen Bürgerkriegs und Zeugnisse der frühen Besiedlung durch englische Auswanderer, aber ein Nachtleben suchte man hier vergebens.
Hope setzte große Hoffnungen auf die Eröffnung des neuen Restaurants mit angeschlossener Bar, das ihre Freundin Avery MacTavish plante, und diesem rothaarigen Energiebündel traute sie so einiges zu. Beispielsweise einen Laden auf die Beine zu stellen, wo man abends gerne hinging, um einen Cocktail oder einen Wein zu trinken. Immerhin hatte sie es geschafft, ihre ebenfalls am Markt gelegene Pizzeria zum gefragtesten Familienlokal der Gegend zu machen. Jetzt wollte sie sich zusätzlich an ein Abendrestaurant der gehobenen Kategorie einschließlich Bar wagen. Avery brannte geradezu darauf, es allen zu beweisen – dabei war bislang immer Hope als die Ehrgeizige angesehen worden.
Sie schaute sich in der Hotelküche um, in der nichts fehlte, was zu einer funktionalen Küchenausstattung gehörte, und die trotzdem eine warme, behagliche Atmosphäre ausstrahlte. Für das Frühstück war alles vorbereitet, sodass Carolee am Morgen keine zusätzliche Zeit mehr vertrödeln musste. Die Gäste hatten sich ausnahmslos in ihre Zimmer zurückgezogen.
Alles, was zu den Pflichten einer Geschäftsführerin gehörte, war erledigt. Der Papierkram ebenso wie die letzte Runde durchs Haus, um nachzusehen, ob alle Türen abgeschlossen waren oder irgendwo benutztes Geschirr herumstand. Jetzt blieb ihr eigentlich nichts mehr, als nach oben zu gehen in ihre kleine Wohnung.
Nur verspürte sie dazu keinerlei Neigung.
Stattdessen schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein, setzte sich an einen Tisch im Frühstücksraum und überdachte den Tag. Alles Routine, keine besonderen Vorkommnisse. Seufzend erhob sie sich nach einer Weile, füllte ihr Glas neu, schaltete den Kronleuchter aus, ehe sie mit ihrem Schlummertrunk in den ersten Stock stieg.
Gewohnheitsmäßig schaute sie noch einmal in die Bibliothek. Man konnte nie wissen, ob es sich nicht ein Gast hier zu später Stunde mit einem Buch und einem Whiskey gemütlich gemacht hatte.
Nein, alles ruhig.
Aus Richtung des Nick-und-Nora-Zimmers war ebenfalls nichts zu hören. Max und Donna Vargas schliefen in dem eleganten Art-déco-Ambiente. Sie waren seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet, und die Übernachtung im BoonsBoro Inn war ein Geschenk der Tochter zu beider Geburtstage gewesen.
Ein Stockwerk höher verbrachte ein ganz junges Pärchen, Troy und April, die Hochzeitsnacht in der Westley-und-Butterblume-Suite, die sich wegen ihrer romantisch-verspielten Ausstattung bei frisch Verheirateten großer Beliebtheit erfreute.
Hope zog die Balkontür auf und trat in die Dunkelheit hinaus.
Ihr Weinglas in der Hand lehnte sie sich ans Geländer der breiten hölzernen Veranda und warf einen Blick über den Marktplatz auf die Wohnung, die direkt über dem Vesta lag. Sie war unbewohnt, seit Avery bei Owen wohnte, und Hope vermisste es
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