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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Prolog
    Dieser Junge beobachtete sie schon wieder.
    Die vierzehnjährige Alice Rose versuchte, sich auf die Matrize mit den zehn Fragen zu konzentrieren, die vor ihr auf dem Tisch lag, doch ihre Gedanken waren nicht bei der englischen Literatur, die sie im ersten High-School-Jahr durchgenommen hatten, sie waren bei Elijah. Sie konnte den Blick des Jungen spüren wie einen Strahl, der auf ihr Gesicht gerichtet war; sie fühlte seine Wärme auf ihrer Wange – und merkte, wie sie errötete.
    Konzentrier dich, Alice!
    Die nächste Frage konnte sie nur mit Mühe entziffern, weil die Umdruckmaschine die Buchstaben verschmiert hatte.
    Charles Dickens wählt für seine Figuren häufig Namen, die bestimmte Charakterzüge widerspiegeln. Nenne einige Beispiele und erkläre, warum die Namen zu den betreffenden Figuren passen.
    Alice kaute auf ihrem Bleistift herum und kramte in ihrem Gedächtnis nach einer Antwort. Aber sie konnte einfach nicht denken, solange er am Pult neben ihr saß, so nahe, dass sie seinen Duft riechen konnte – eine Mischung aus Kiefernölseife und Holzrauch. Männliche Düfte. Dickens, Dickens – was interessierte sie dieser Charles Dickens mit seinem Nicholas Nickleby und überhaupt die ganze todlangweilige englische Literatur, solange der schöne Elijah Lank sie anschaute? Gott, er sah wirklich so unglaublich gut aus, mit seinen schwarzen Haaren und seinen blauen Augen. Tony-Curtis-Augen. Das hatte sie gleich gedacht, als sie Elijah zum ersten Mal gesehen hatte: Er sah wirklich aus wie Tony Curtis, dessen wunderhübsches Gesicht sie von den Seiten ihrer Lieblingszeitschriften Modern Screen und Photoplay anstrahlte .

    Sie senkte den Kopf, so dass ihr das Haar ins Gesicht fiel, und warf verstohlene Seitenblicke durch den Vorhang aus blonden Strähnen. Und ihr Herz machte einen Sprung, als sie feststellte, dass er tatsächlich sie ansah – und zwar nicht so verächtlich und von oben herab wie all die anderen Jungen an ihrer Schule; diese gemeinen Kerle, die ihr nur das Gefühl gaben, beschränkt und schwer von Begriff zu sein. Diese Jungen, deren spöttisches Getuschel sie ständig begleitete – aber immer so leise, dass sie nicht verstehen konnte, was sie sagten. Sie wusste, dass sie von ihr redeten, weil sie dabei in ihre Richtung schauten. Das waren dieselben Jungen, die das Foto einer Kuh an die Tür ihres Schließfachs geheftet hatten; dieselben, die immer Muuh! machten, wenn sie auf dem Flur aus Versehen mit ihnen zusammenstieß. Aber Elijah – er sah sie ganz anders an. Mit schmachtenden Glutaugen. Wie ein Filmstar.
    Ganz langsam hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick, nicht mehr durch den schützenden Schleier ihrer Haare, sondern offen und unverwandt. Er war schon fertig mit dem Test, hatte das Blatt mit den Fragen umgedreht und den Stift in sein Pult gelegt. Seine volle Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet, und sein Blick schlug sie so in den Bann, dass es ihr fast den Atem raubte.
    Er mag mich. Ich weiß es. Er mag mich.
    Ihre Hand ging zu ihrem Hals, zum obersten Knopf ihrer Bluse. Ihre Finger strichen leicht über ihre Haut, und die Stelle, wo sie sie berührt hatten, war plötzlich ganz heiß. Sie dachte an Tony Curtis, wie er den Blick seiner Glutaugen auf Lana Turner richtete – diesen Blick, bei dem jedes Mädchen weiche Knie bekommen und vor Verlegenheit kein Wort herausbringen würde. Diesen Blick, der unmittelbar vor dem unvermeidlichen Kuss kam. Das war die Stelle, an der das Kinobild jedes Mal unscharf wurde. Warum musste das so sein? Warum verschwamm das Bild immer genau dann, wenn man unbedingt sehen wollte, was …
    »Die Zeit ist um! Bitte alle abgeben.«

    Schlagartig richtete Alices Blick sich wieder auf ihr Pult, auf die Matrize mit den zehn Testfragen, von denen sie erst die Hälfte beantwortet hatte. O nein! Wo war nur die Zeit geblieben? Sie wusste doch alle Antworten. Sie brauchte nur noch ein paar Minuten …
    »Alice. Alice!«
    Sie blickte auf und sah Mrs. Meriweather vor sich stehen, die Hand ausgestreckt.
    »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Du musst jetzt abgeben.«
    »Aber ich …«
    »Keine Ausreden. Du musst endlich lernen zuzuhören , Alice.« Mrs. Meriweather schnappte sich Alices Arbeit und ging damit nach vorne. Obwohl Alice die Worte kaum verstehen konnte, wusste sie genau, dass die Mädchen in der Bank hinter ihr über sie tuschelten. Sie drehte sich um und sah, wie sie die Köpfe zusammensteckten, verstohlen kicherten und die Hände vor

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