Die Lutherverschwörung - historischer Roman
Zuversicht in ihn einkehrten. Er öffnete die Augen und nahm Luther erneut ins Visier. Seine Zweifel waren verflogen, er war sich nun seiner Sache ganz sicher, und auch seine Hände fühlten sich gut an.
Er würde ihn in den Rücken treffen, seine breiten Schultern gaben ein gutes Ziel ab. Noch ein wenig tiefer, dort lag das Herz. Im Geist sah Wulf den Pfeil schon dort stecken. Vor seinem inneren Auge lief sogar eine kleine Szene ab, wie Luther zu Boden fiel und die Umstehenden aufsprangen, auch der Kaiser. Er verdrängte die Bilder und konzentrierte sich nun auf seinen Schuss, er war jetzt ganz bei der Sache, sein rechter Zeigefinger spannte sich am Abzugshebel.
In diesem Moment schreckte er zurück, weil etwas direkt auf sein Gesicht zuschoss; ein Wechsel aus Sonnenlicht und Schatten, Lärm. Wulf duckte den Kopf, dann erst bemerkte er an dem Flattern und Flügelschlagen, dass es ein Vogel war, eine Taube. Sie war auf das offen stehende Fenster zugeflogen und hatte ihn nicht bemerkt â wahrscheinlich war sie genauso erschrocken wie er! Sie verharrte kurz flügelschlagend vor dem offenen Fenster, Wulf sah winzige Federn und Staubpartikel durch die Luft schweben und das Sonnenlicht auffangen, dann drehte sie seitlich ab und verschwand.
Wulf nahm die Armbrust vom Fensterbrett und legte sie auf das Fass. Er setzte sich auf den Boden, schüttelte den Kopf und atmete ein paar Mal tief durch. Die Taube hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Sie hätte in keinem ungünstigeren Augenblick erscheinen können, denn wäre sie einen Herzschlag später aufgetaucht, hätte er Luther getötet.
War das ein Wink des Schicksals? War der Ketzer mit dem Teufel im Bund? Das geschah erwiesenermaÃen häufig, wie Wulf aus Heiligenlegenden wusste. Der Teufel persönlich oder seine Helfer griffen ein, um das Werk der Gottgesandten zu hintertreiben: Also war das eine letzte Prüfung für ihn! Wer GroÃes vollbringen wollte, musste auf so etwas gefasst sein und durfte sich nicht von seinem Weg abbringen lassen. Diese Gedanken richteten Wulf auf. Falls er die Prüfung bestand, würde sein Sieg noch glorreicher ausfallen.
Es gelang ihm, sich erneut zu sammeln. Vom Bewusstsein seiner Berufung durchdrungen, legte er die Armbrust auf das Fensterbrett. Er war nicht nervös und ebenso selbstsicher und vom Gelingen überzeugt wie vorhin. Er nahm das Fenster der Aula Major ins Visier, Luther stand am gleichen Fleck wie vorhin. Im Treppenhaus hörte Wulf Poltern, aber nun würde ihn nichts mehr ablenken.
»Weder dem Papst noch den Konzilien allein kann ich glauben«, sagte Luther, »da es feststeht, dass sie wiederholt irrten. Nur durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder vernünftige Gründe kann man mich überwinden, denn auf die Schrift stütze ich mich. Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort und darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln gefährlich ist. Gott helfe mir! Amen.«
»Dass die Konzile geirrt haben, wie du behauptest, wirst du für keine Zeit beweisen können, wenigstens in Glaubensfragen«, erwiderte der Offizial verärgert.
Jost stürmte die Treppe hinauf, er nahm mehrere Stufen auf einmal und kam gehörig auÃer Atem. Ich werde alt, fluchte er innerlich, früher hätte mir das nichts ausgemacht. Auch die Arkebuse in der rechten Hand hatte ein höllisches Gewicht. Seine Sorge galt Anna und Luther gleichzeitig, hoffentlich kam er nicht zu spät. Im zweiten oder dritten Stock öffnete sich eine Tür, Leute kamen ihm entgegen und riefen etwas. Er verstand kein Wort und beachtete sie nicht, lief einfach weiter.
Der Turm schien kein Ende zu nehmen. Seine Schritte polterten auf den Holzstufen, und er verschwendete keinen Gedanken daran, sich Wulf unauffällig zu nähern. Endlich erreichte er den obersten Treppenabsatz, und vor ihm lag der Kornspeicher. Es gab dort keine Tür, mit einem Satz war Jost über der Schwelle. Beim Fenster stand Wulf, er sah ihn sofort; aber Wulf rührte sich nicht, er kehrte Jost den Rücken zu. Hatte er schon geschossen?
»Wulf!«, schrie Jost. »Wulf Kramer!«
An dieser Stelle beendete der Kaiser das Verhör, ohne ein Urteil zu fällen. Jeder im Saal bemerkte, dass ihm die ganze Angelegenheit, der er nur mit Hilfe des Dolmetschers folgen konnte, gehörig auf die Nerven ging. Im Saal entstand groÃe Unruhe und Verwirrung.
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