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Nacht-Mähre

Titel: Nacht-Mähre Kostenlos Bücher Online Lesen
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1
Regenbogen
    Der Storch ging im Gleitflug vor Stunks Heim nieder und krächzte aufmerksamkeitsheischend.
    Der Kobold geriet in Panik. »Das kann überhaupt nicht sein!« rief er entsetzt. »Ich bin doch nicht mal verheiratet!«
    »Keine Bange«, näselte der Storch durch seinen langen Schnabel. »Außerhalb der Saison arbeite ich als Postbote.« Er holte ein amtlich aussehendes Schreiben hervor.
    »Außerhalb welcher Saison?« fragte der Kobold.
    »Ach, das verstehst du sowieso nicht. Hier, nimm den Schrieb. Ich habe noch andere Idioten, die ich aufsuchen muß.«
    »Aber ich kann doch überhaupt nicht lesen!« protestierte Stunk, während sich seine Panik in Verlegenheit umwandelte. Die wenigsten Kobolde waren des Lesens mächtig, aber wie die meisten Analphabeten mochten auch sie es nicht, wenn man das an die große Glocke hing.
    »Ich les’ es dir vor, Knollennase.« Der Storch öffnete den Umschlag und schielte mit einem Auge auf das darin befindliche Dokument. »Grüße!«
    »Gleichfalls, Vogelhirn«, erwiderte Stunk höflich. Kobolde hatten ausgezeichnete Manieren, obwohl andere Lebewesen dies aus irgendeinem unerfindlichen Grund nie zu schätzen wußten.
    »Du sollst nicht antworten, du Tölpel!« sagte der Storch. »Ich lese bloß den Brief vor und rede nicht mit dir! Weißt du etwa nicht, was ›Grüße!‹ heißt?«
    Stunk sagte nichts.
    »He, Dämlack, ich habe dich was gefragt!« schnauzte der Storch irritiert.
    »Ich dachte, du würdest mir den Brief vorlesen, Vogelhirn, deshalb habe ich auch nichts erwidert. Ach, da versuche ich höflich zu sein, und was nützt es? Perlen vor die Säue! Natürlich weiß ich, was das heißt. Das ist ein unkoboldhafter Gruß.«
    »Ein Gruß, ha! Du Blödmann, das ist ein Kennwort; das bedeutet, daß man dich eingezogen hat!«
    »Wie bitte? Wo hinein?«
    »In die Armee, du Kretin! Ein Gefangener der offiziellen Preßpatrouillen! Dein glückliches Zivilistenleben ist vorbei.«
    »Nein!« rief Stunk schaudernd. »Ich will nicht kämpfen. Jedenfalls nicht so, nicht mit Waffen und Regeln und so. Sag, daß das alles nicht stimmt!«
    »Hähä, ich wette, jetzt hättest du lieber das Baby von mir gebracht bekommen, was, Kobold?« sagte der Storch hämisch und liebkoste den Einberufungsbescheid mit den Flügeln.
    »Warum sollte man mich in den Krieg rufen? Wir leben doch mit den Drachen und Greifen einigermaßen in Frieden!«
    »Wegen der mundanischen Invasion, du Knalltüte! Die Nächstwelle der Eroberung. Die schrecklichen Mundanier sind gekommen, um sich einen Drachen- und Koboldeintopf zu kochen.«
    »Nein! Nein!« schrie Stunk, während ihn mit leisen Stolperschritten ein wachsendes Entsetzen beschlich. »Ich will aber kein Eintopf werden! Ich bin doch nur ein junger, unwissender Herumtreiber! Ich habe noch mein ganzes häßliches Leben vor mir! Ich gehe nicht!«
    »Dann ist das unerlaubtes Entfernen von der Truppe oder sogar Fahnenflucht«, erwiderte der Storch und fuhr sich mit einer apfelsinenfarbigen Zunge über den Schnabel. »Weißt du, was man mit Fahnenflüchtigen macht?«
    »Ich will’s überhaupt nicht wissen!«
    »Die wirft man den Drachen zum Fraß vor.« Ganze Häme-Wellen umgaben den Storch wie die Ringe auf einer öligen Pfütze. Hinter ihm ragte plötzlich ein lauernder Drache empor und gab ein paar Aufwärmpuster aus rosa Dampf von sich.
    »Lebend kriegen die mich niemals!« rief Stunk und steigerte sich zu einer nie gekannten Stufe der Feigheit empor. Er jagte aus seinem Wandloch hervor, um der Einberufung zu entgehen. Doch da war auch schon der hungrige Drache hinter ihm her und blähte sich auf, um eine ganz besonders rosa leuchtende Rauchwolke hervorzustoßen – eine von jener Sorte, die nicht nur Kobolde zu rösten und zu garen pflegte, sondern zu allem Überfluß auch noch ziemlich übel roch. Eine Art Speicheldampf.
    Schreiend floh Stunk vor dem Feuer des Ungeheuers, das bereits heiß seinen Rücken emporzüngelte. Er achtete nicht darauf, wohin ihn die Füße trugen. Er gewann nach und nach zwar an Vorsprung, wußte aber genau, daß er noch längst nicht außerhalb der Reichweite des Drachen war; dessen Feuerzunge konnte ihn noch jederzeit einholen.
    Plötzlich kam er an einen steilen Abgrund, unfähig, rechtzeitig abzubremsen. Sein Entsetzen verdoppelte sich, als er in die Tiefe stürzte. Er sah, wie der harte Fels des Bodens einer Schlucht auf ihn zu kam, während er mit seinen kurzen Stummelarmen hilflos in der Luft ruderte. Lieber ein Drache,

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