Die Macht der Disziplin
schauen zu müssen. Was sind ihre Symptome? Welche Warnsignale weisen darauf hin, dass Ihr Gehirn gerade nicht auf Kontrolle eingestellt ist – und zwar bevor Sie mit Ihrem Partner streiten oder auf einen Rutsch eine Familienpackung Erdbeereis verdrücken? Bis vor kurzem waren die Wissenschaftler in dieser Frage mehr oder weniger ratlos. In Dutzenden Untersuchungen 29 begaben sie sich auf die Suche nach verräterischen emotionalen Reaktionen und fanden entweder gar nichts oder nur widersprüchliche Ergebnisse. Die Ego-Erschöpfung führte nicht gleichmäßig zu Depression, Zorn oder Unzufriedenheit. Im Jahr 2010 verglich ein internationales Forscherteam mehr als 80 Untersuchungen zu diesem Thema und kam zu dem Schluss, dass die Auswirkungen der Ego-Erschöpfung auf das Verhalten verlässlich deutlich und anhaltend eintraten, während die Auswirkungen auf die Emotionen sich weit weniger deutlich zeigten. Im Zustand der Ego-Erschöpfung gaben Menschen an, sich insgesamt erschöpfter zu fühlen, und beschrieben andere negative Emotionen, doch die Unterschiede zum Normalzustand fielen weniger groß aus. Man konnte fast den Eindruck bekommen, dass es sich bei der Ego-Erschöpfung um eine Krankheit ohne Symptome handelte, oder zumindest um einen Zustand, den man nicht direkt »fühlte«.
In neuen Experimenten fanden Baumeister und seine Kollegin Kathleen Vohs von der University of Minnesota jedoch heraus, dass es dafür sehr wohl indirekte Anzeichen gibt. In ihren Versuchen wiesen die Teilnehmer im Zustand der Ego-Erschöpfung einmal mehr keine eindeutigen emotionalen Anzeichen auf, aber sie reagierten heftiger auf alle möglichen Dinge. 30 Ein trauriger Film machte sie trauriger. Lustige Bilder machten sie fröhlicher, verstörende Bilder ängstlicheroder zorniger. Eiskaltes Wasser fühlte sich kälter an. Nicht nur die Gefühle wurden intensiver, sondern auch die Bedürfnisse. Nachdem sie ein Plätzchen gegessen hatten, verspürten sie ein größeres Bedürfnis, noch eines zu essen, und wenn sie die Möglichkeit hatten, aßen sie mehr. Beim Anblick eines verpackten Geschenks verspürten sie einen größeren Wunsch, es zu öffnen.
Wenn Sie nach einem Warnsignal suchen, dass Probleme in Anmarsch sind, dann gibt es also nicht das eine Symptom. Vielmehr erleben Sie sämtliche Gefühle intensiver. Wenn Sie also besonders empfindlich auf ein frustrierendes Erlebnis reagieren, wenn Sie von unangenehmen Gedanken besonders berührt werden oder positive Nachrichten ungewöhnlich euphorisch aufnehmen, dann liegt das vielleicht daran, dass die Schaltkreise Ihres Gehirns Ihre Emotionen vielleicht weniger gut im Griff haben als sonst. Intensive Gefühle können natürlich sehr angenehm sein, sie gehören zum Leben dazu und es geht auf keinen Fall darum, eine emotionale Monotonie herzustellen (es sei denn, Ihr Vorbild ist der kühle Vulkanier Dr. Spock aus der Fernsehserie
Raumschiff Enterprise
). Sie sollten sich nur bewusst sein, was diese Gefühle bedeuten können. Wenn Ihr Widerstand geschwächt ist, könnten die verbotenen Früchte plötzlich noch verlockender erscheinen. Die Ego-Erschöpfung ist gleich ein doppelter Schlag ins Kontor: Ihr Wille ist geschwächt und Ihre Gelüste sind stärker denn je.
Für Suchtkranke kann das beispielsweise ein echtes Problem darstellen. Wissenschaftler wissen schon lange, dass das Verlangen nach der Droge während des Entzugs besonders groß ist. Seit kurzem wissen sie, dass in diesem Zustand auch alle möglichen anderen Gefühle intensiver werden. In der Entzugsphase verwenden Suchtkranke so viel Willenskraft auf den Kampf gegen die Abhängigkeit, dass sie vermutlich auch unter einer anhaltenden Ego-Erschöpfung leiden und das Verlangen nach der Droge umso größer wird. Dazu kommt, dass auch andere Ereignisse ungewöhnlich starke Wirkung zeigen, zusätzliches Leid verursachen und die Gier nach einer Zigarette, einemSchluck Alkohol oder einer Droge verstärken. Kein Wunder, dass die Rückfallquote hoch ist und sich Suchtkranke im Entzug nicht mehr wiedererkennen. Lange bevor die Psychologen die Ego-Erschöpfung entdeckten, brachte der britische Humorist Sir A.P. Herbert die widersprüchlichen Symptome wunderbar auf den Punkt: »Gott sei Dank habe ich wieder mit dem Rauchen aufgehört! Mein Gott, was fühl ich mich fit! Ich könnte jemanden umbringen, aber ich bin fit. Wie neu geboren. Aggressiv, launisch, deprimiert, gereizt, genervt, klar, aber die Lunge ist gut drauf.« 31
Das Geheimnis
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