Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
reagieren wir auf die Kassandrarufe der Fachleute? Und welche Sorgen und Ängste quälen uns?
Das Ideal des ehrbaren Kaufmanns bildete einmal das Leitbild der Wirtschaft. Seine Geschichte ist die Geschichte eines Glaubens an den absoluten Wert von Wahrhaftigkeit. Es war für Kaufleute eine Ehrensache, der Versuchung zu widerstehen, um wirtschaftlicher Vorteile willen unehrlich zu handeln. Diese Haltung machte den Stolz auf ihren Beruf aus und schaffte das Vertrauen, das wirtschaftliches Handeln zum Erfolg führt. Niederlagen vermochten die feste Burg ihrer Ethik nicht zu erschüttern. Ist das ein vergangenes Ideal?
Das heute weitverbreitete Vorteilsdenken gefährdet das ethische Handeln von Kaufleuten immens. Doch nicht nur Kaufleute sind gefährdet, auch Menschen, die Dienstleistungen »verkaufen«. Ärzte lassen sich verführen, Operationen vorzunehmen, weil sie Geld eintragen; selbst eine Autoreparaturwerkstatt könnte versucht sein, Kfz-Teile auszutauschen, die gar nicht verschlissen sind. Wer aber anfängt, solchen Versuchungen nachzugeben, wird das Ethos der Wahrhaftigkeit aufgeben.
Der Zeitgeist, der einst den ehrbaren Kaufmann stützte, scheint sich der Wahrhaftigkeit nicht mehr verpflichtet. Die Vatikanbank reiht sich in den Reigen der Lügenbanken ein. Der angesehene Präsident des FC Bayern, Uli Hoeneß, geschätzt als Mann des Gemeinwohls, hinterzieht Steuern. Bankberatern trauen wir nicht mehr über den Weg, weil sie den Kunden zu Anlagen raten, die vor allem der Bank nützen. Sie verschweigen versteckte Kosten und die Tatsache, dass mögliche Provisionen ein Motiv der Beratung sind. Wir fühlen uns Internetriesen wie Amazon ausgeliefert, die Menschen unter schlechten Arbeitsbedingungen ausnutzen, um ihren Profit zu vermehren. Berichte über solche Machenschaften nähren unser Misstrauen. Lebensmittelskandale sind an der Tagesordnung. Die Werbung schreckt vor keiner Lüge zurück. Alle diese Nachrichten scheinen die Thesen der Propheten des 21. Jahrhunderts hinsichtlich der Ökonomisierung unseres Lebens zu bestätigen.
Doch im Alltag begegnet uns noch der ehrbare Kaufmann. Wie oft verlassen wir uns auf Handwerker, auf Mitarbeiter mittelständischer Unternehmen oder auf Verwaltungsbeamte und werden nicht enttäuscht. Aber manchmal kommen uns Zweifel, ob ihre Nachfolger dieser Moral noch folgen werden. Denn das egoistische Gebaren von Banken und global agierenden Konzernen macht uns misstrauisch. Ebenso schwindet unser Vertrauen in Politiker. Ein Bundespräsident tritt zurück, weil er die Wahrheit vernebelt, Ministern und Abgeordneten werden Plagiate in ihrer Doktorarbeit nachgewiesen. Ihre Reaktion: Dementis. Die Lügen von Wahlkämpfern registrieren wir nur noch fatalistisch. Im Sport, einst ein Eldorado der Fairness, reißen Berichte über Dopingmissbrauch nicht ab, die Entdeckung und die Leugnung solchen Fehlverhaltens sind mittlerweile feste Bestandteile der Berichterstattung zu Olympischen Spielen und anderen Sportereignissen. Wettskandale erschüttern den internationalen Fußball – Lügen über Lügen, so weit das Auge reicht. Steht eine Person ehrlich zu ihrer Verfehlung wie die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, dann wird sie wie eine Heilige verehrt. Das, was Margot Käßmann getan hat, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Nur weil es nicht mehr so ist, konnte sie zur Ausnahmeerscheinung werden.
Es entsteht der Eindruck, es sei in unserer Zeit so schlecht um die Ehrlichkeit bestellt wie noch nie. Historiker können freilich schnell belegen, dass vor hundert Jahren ebenso gelogen wurde wie heute. Allerdings wurden Lügen noch nie so schnell und schonungslos wie heute ans Licht gebracht. Das ist moderner Medienkultur zu verdanken – ein Segen und ein Fluch zugleich. Lügen als Lügen anzuprangern ist segensreich. Aber nicht nur die Lügen der Mächtigen werden öffentlich, auch ihr Zynismus wird es. Dieser Zynismus kratzt an unserem immer noch optimistischen Menschenbild.
Zynismus war unter den Mächtigen immer verbreitet. Ihre moral- und menschenverachtende Haltung beschert ihnen Erfolg, weil sie auf den Anstand und die Ehrlichkeit der einfachen Bürger bauen. Um diese Haltung der Mächtigen zu begreifen, lohnt es sich, eine Szene in Schillers Kabale und Liebe nachzulesen, in der sich der Präsident der Hofkammer eines Fürstenhauses und sein Sekretär Wurm eine Intrige ausdenken, um die nicht standesgemäße Liaison des Präsidentensohnes
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