Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
mit einem Bürgermädchen zu hintertreiben. Erpressung übelster Art ist im Spiel. Der Präsident und sein Sekretär müssen erreichen, dass die Erpressten, das Mädchen und seine Eltern, Stillschweigen wahren. Sie sollen einen Eid darauf leisten, dass sie schweigen werden. Präsident: »Einen Eid? Was wird ein Eid fruchten, Dummkopf?« Wurm: »Nichts bei uns , gnädiger Herr. Bei dieser Menschenart alles.«
So müssen wir uns Dialoge in manchen politischen Gremien oder Bankvorständen vorstellen. Sie vertrauen zynisch auf diese »Menschenart«, die ein Versprechen hält, einen Eid nicht bricht und deren Wort gilt. Kann es aber nicht sein, dass diese »Menschenart« ausstirbt oder zumindest zu den gefährdeten Arten zählt? Zur Zeit Schillers erfuhren wenige Menschen vom Zynismus der Mächtigen, heute vernehmen wir durch die Medien, dass sie sich frech auf Kosten der Gemeinschaft bedienen.
Unehrlichkeit, Unanständigkeit und Trägheit wirken ansteckend – Ehrlichkeit, Anstand und Fleiß allerdings ebenso. Wir haben vor Jahren in Salem einen Jungen aufgenommen, der sich in seiner Heimatstadt einer Gruppe Gleichaltriger angeschlossen hatte, die ihn zu Alkoholkonsum, Nichtstun und notorischem Lügen verführten. Die Eltern konnten ihn überzeugen, dass er sein Umfeld verändern müsse. Er stimmte zu und kam zu uns. Die Rechnung ging auf, er fand schnell Anerkennung in einer Gruppe, die ihn für Sport begeisterte. Er brauchte nicht mehr zu lügen, weil er nichts mehr zu verbergen hatte.
An einen umgekehrten Fall erinnere ich mich ebenfalls. Ein begabter, tüchtiger Junge wollte mehr aus seinen Talenten machen, kam zu uns, fand aber Gefallen an den Streichen und Albernheiten einer Gruppe von pubertierenden Mitschülern. Die Noten sanken ins Bodenlose, er verlor seinen Heiligenschein und brachte es zum meistgenannten Schüler in den Konferenzen. Er hatte in Salem das Lügen gelernt.
Ich berichte von beiden Jungen, um zu zeigen, was soziale Ansteckung im Guten und im Bösen anrichten kann. Erwachsenen geht es nicht anders. Denn leider sind wir von Natur aus schwach und brauchen zur Stärkung ein moralisch intaktes Umfeld. Umgekehrt höhlt es unsere Moral aus, wenn wir unter Menschen leben, die egoistisch handeln und lügen, wenn es ihnen nützt.
Wenn die Bürger unseres Landes beinahe täglich erfahren, dass viele Herrschende lügen und betrügen, wenn die verlässlichen Vorbilder rar werden und wenn immer wieder neue Skandale nachwachsen, verbreitet sich das Gift der Lüge durch soziale Ansteckung. Auch Zynismus wirkt ansteckend.
Viele Jugendliche nehmen die öffentliche Lügerei wahr und akzeptieren sie wie das schlechte Wetter, manche entwickeln ihrerseits ein zynisches Verhältnis zur Moral der Mächtigen. Sie verlieren die Achtung vor Politikern, Wirtschaftsführern und den Funktionären der großen Verbände, auch vor Vertretern der Kirchen. Wenn ein Politiker oder Wirtschaftsführer als ehrlich gilt, gehen sie davon aus, dass seine Lügereien nur noch nicht entdeckt wurden. Ihre Vorbilder wählen sie sowieso eher aus ihrem näheren Umfeld: Gleichaltrige, Eltern, Lehrer, Freunde ihrer Eltern, Verwandte. Sie entwickeln die Haltung, dass man im Kreis der Familie und der Freunde aufrichtig sein soll. In der Außenwelt darf man betrügen. Einen Diebstahl im Supermarkt werten sie nachsichtiger als einen Diebstahl in ihrer Gemeinschaft. Politik erscheint ihnen als ein schmutziges Geschäft. So begründen sie, warum sie sich ins Private zurückziehen.
Auch der Glaube an die segensreiche Wirkung von Aufklärung ist beschädigt. Viel zu oft bleibt es folgenlos, wenn die Wahrheit über die Machenschaften der Mächtigen ans Licht kommt. Boni werden gezahlt, auch wenn ein Investmentbanker Millionen Menschen geschädigt hat. Nicht einmal Richard Fuld, der als Chef der Investmentbank Lehman Brothers die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg auslöste, muss persönlich für das Geschehene geradestehen. Das erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht. Trotzdem sind wir dankbar, dass die Lügen entdeckt werden und dass über sie berichtet wird.
Unser Vertrauen in Politiker, die wir als unsere Repräsentanten wählen, ist erschüttert. Das ist gefährlich. Denn mehr und mehr bröckelt auch unser Vertrauen in die Gesellschaftsform, die uns Frieden und Wohlstand gebracht hat, in die Demokratie.
Wahrhaftigkeit galt als Primärtugend. So nennen wir eine Tugend, die aus sich heraus gilt, die ihren Wert in sich hat – Liebe,
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