Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Menschen, die sich im Alltag ihre Wahrheit geschaffen haben. Sie wissen immer genau, »wo es langgeht«.
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: »Wähle!« – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: »Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!«
Diese Worte Lessings über die Wahrheit stammen aus einer theologischen Kontroverse im Jahre 1777 und sind nachzulesen in Lessings Theologische Streitschriften .
Wenn wir andere beurteilen müssen, ist die Gefahr der Selbsttäuschung besonders groß. Denn wir neigen dazu, subjektiven Einschätzungen objektive Richtigkeit zuzuschreiben. Lehrer müssen fortwährend die Leistungen von Schülern bewerten. Wie schrecklich sind Lehrer, die an die objektive Gültigkeit ihrer Noten glauben. Die ruhige Arroganz solcher Lehrer lässt Schüler an deren Menschlichkeit zweifeln. Ich regte mich in Zeugniskonferenzen regelmäßig über Lehrer auf, die die Noten bis auf zwei Dezimalen nach dem Komma ausrechneten und einen Anspruch auf Objektivität vortäuschten, gegen den Schüler sich machtlos fühlten. Eltern müssen sich anstrengen, die wahre Begabung ihrer Kinder zu erkennen. Welch ein Unglück für Kinder, wenn Eltern genau wissen, wie begabt oder unbegabt sie sind.
Scheinheilige werden behaupten, die Wahrheit zu wissen. Ebenso Lügner. Denn die Sicherheit, mit der der eine sich selbst und der andere andere belügt, macht ihren Erfolg aus. Sie sind nicht bereit, über sich nachzudenken. Man erkennt sie häufig am Mangel an Humor. Denn Humor zu haben ist die Fähigkeit, über sich selbst lächeln zu können.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich vor »Wahrheiten« über meine Person und meine Leistungen fliehe. Wenn ich merke, dass ein Vortrag nicht gelungen ist, vermeide ich Begegnungen mit den Zuhörern, im umgekehrten Fall suche ich das Gespräch mit dem Publikum. Manchmal drücke ich mich auch darum, mich mit anderen Vortragenden zu vergleichen. Aus solch einem Grund verließ ich einmal einen Kongress früher, was der nachfolgende Redner sehr bedauerte. Meinen vorzeitigen Aufbruch konnte ich begründen, weil ich meinen Flug erreichen musste. Hinterher holte mich die »Wahrheit« aber dennoch ein: Die Kongressleitung verschickte einen Bericht, in dem mein Vortrag zwar als gut, der Vortrag des anderen Redners jedoch als fulminant bewertet wurde.
Wahrhaftigkeit hängt auch von der Eindeutigkeit und Klarheit der Aussagen ab, die man macht. »Deine Rede sei ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel«, heißt es schon in der Bergpredigt.
Die Mutter fragte ihren zwölfjährigen Sohn, warum der Bruder weint. »Er ist hingefallen«, antwortete er wahrheitsgemäß. Dass er ihn geschubst hatte, verschwieg er.
Ein Schüler in Salem kam zu spät zum Unterricht. »Ich musste mit dem Schulleiter sprechen«, antwortete er auf die Frage der Lehrerin nach den Gründen der Verspätung. Sie ärgerte sich über den Schulleiter und sprach ihn an, warum er gerade während des Unterrichts Gespräche mit Schülern führen müsse. »Ich habe den Knaben im Flur angesprochen, warum er noch nicht im Unterricht sei«, lautete seine Rechtfertigung.
Ministerpräsident Wulff wurde im niedersächsischen Parlament gefragt, ob er Geschäftsbeziehungen zu einem Unternehmer unterhalte. Abgeordnete vermuteten Bestechlichkeit. Wulff verneinte. Dass er ein privates Darlehen von der Frau des Unternehmers erhalten hatte, verschwieg er.
Lügner lügen nicht immer platt und geradeheraus. Beide Jungen antworteten wahrheitsgemäß, trotzdem waren es keine ehrlichen Antworten auf die gestellten Fragen. Der unpünktliche Junge milderte das Urteil über seine Äußerung, weil sie pfiffig war. Auch Wulff äußerte keine Unwahrheit. Ungenaue Formulierungen, vernebelnde Allgemeinheiten und Halbwahrheiten sind Varianten von Lügen. Erziehung zur Ehrlichkeit heißt auch Erziehung zur Genauigkeit.
Ein anderer häufiger
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