Die Macht der ewigen Liebe
zeigte. Wieder erschauerte ich und straffte dann die Schultern.
Jetzt oder nie, Remy!
Ich marschierte auf die Straße, aufrecht, auch wenn dieSchmerzen im Bauch kaum auszuhalten waren. Meine Schritte hallten wider, und das gab mir Mut, weil das hieß, dass ich es mitbekäme, wenn jemand sich an mich heranzuschleichen versuchte. Bevor ich zum Telefonhörer griff, blickte ich mich noch mal um. Ein Geräusch in der Nähe ließ mich zusammenzucken, was neue Schmerzen zur Folge hatte. Eine Katze schrie, und ich atmete erleichtert auf. Dann nahm ich den Hörer, steckte ein paar Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer, die ich in- und auswendig kannte.
Nach dreimaligem Läuten hob jemand ab. »Hallo?«
Beim Klang der tiefen Stimme meines Großvaters stürmten die verschiedensten Erinnerungen auf mich ein. Früher einmal hatte ich gedacht, wir könnten so etwas wie eine Familie sein, aber François Marche war nicht imstande, jemanden zu lieben.
»Hallo?«, wiederholte er.
Ich brachte einfach nichts heraus.
»Remy!« Fast schon schnurrte er meinen Namen, dieser von sich so überzeugte Scheißkerl. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis du anrufst. Es hat länger gedauert, als ich dachte.«
Vier Monate. Es war vier Monate her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen, seine Stimme gehört und ihm dabei zugeschaut hatte, wie er meine Familie bedrohte. Ich ballte die Hände zu Fäusten, und meine Fingernägel bohrten sich tief in meine Handflächen.
Bitte gib, dass mein Vater noch am Leben ist!
»Franc«, krächzte ich.
»Wie geht’s dir, Schätzchen?«
Seine gespielte Besorgnis erinnerte mich daran, wie naiv ich gewesen war, auf diesen Riesenkerl mit weißem Haarschopf und dröhnendem Lachen hereinzufallen. Als hätte er nichtmein Leben zerstört, nannte mich mein Großvater mit seiner alten, charmanten Stimme »Schätzchen«! Ich unterdrückte meine Wut und antwortete in lockerem Ton: »Ich habe dieses ganze Katz-und-Maus-Spiel mit deinen Männern allmählich satt, aber sonst kann ich nicht meckern. Und wie geht’s dir? Hast du in letzter Zeit deinen Freunden mal wieder irgendwelche Heilerinnen geopfert?«
Gott, wenn die Heilergemeinde, die er anführte, gewusst hätte, dass er sie mit den Beschützern hinterging, hätten sie sich vielleicht gegen ihn erhoben. Franc rechtfertigte sein Verhalten damit, dass es die Gemeinde insgesamt rettete, wenn er den Beschützern ein paar seiner Heilerinnen opferte.
Franc seufzte. »Ich tue, was ich tun muss. Aber es ginge auch anders. Du könntest dem Ganzen ein Ende machen.«
Ich könnte ihren Platz einnehmen, hieß das im Klartext. Im Unterschied zu vollblütigen Heilerinnen würde ich daran, was die Beschützer mir antaten, nämlich nicht sterben. Ich könnte als ihre wiederaufladbare Batterie fungieren. Als die Erinnerung an Asher an dem Abend in mir hochstieg, als wir ihn aus den Händen meines Großvaters befreit hatten, stieg mir die Galle hoch. Gefoltert, gebrochen, ohne Hoffnung. So sähe mein Leben aus, wenn ich auf die Forderungen meines Großvaters einginge.
»Niemals«, flüsterte ich angewidert.
»Na, denk darüber nach. Immerhin müsste niemand sonst mehr sein Leben lassen.«
Ekel und Zorn schärften meine Worte. »Ich habe darüber nachgedacht. Seitdem du mir den Vorschlag gemacht hast, habe ich Albträume. Du erinnerst dich doch an den Tag, oder? Ich schon. Ach übrigens, wie geht’s deinem Bauch?«
Franc hatte mich dazu bringen wollen, meinen Vater zu töten, aber ich hatte entkommen können, indem ich meinegrößte Waffe einsetzte: Ich konnte meine Verletzungen auf diejenigen übertragen, die mir übelwollten. Bei unserer letzten Begegnung hatten mein Großvater und die mit ihm verbündeten Beschützer aus Bauchwunden geblutet, die ich mir selbst zugefügt hatte.
»Alles geheilt«, gab er zurück, während ich noch überlegte, ob ich mit der Frage zu weit gegangen war. »Hätte gar nicht gedacht, dass deine Fähigkeiten derart weit reichen. War ganz schön schmerzvoll, das Ganze.«
Ich lächelte zufrieden.
»Du kannst von Glück reden, dass ich nicht so kleinlich bin und auf Rache sinne. Dein Vater würde das, was ich dann mit ihm anstellen würde, wohl kaum überleben.«
Ich suchte an der kalten Metallablage unter dem Telefon Halt. Zweimal probierte ich vergeblich, trotz eines Riesenkloßes im Hals, etwas zu sagen. »Er … er lebt?«, brachte ich schließlich krächzend hervor.
Vor vier Monaten hatte man Ben, Lucys
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