Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Schließlich bin ich nur eine Gouvernante und bestimmt keine gute Partie.«
Heiraten … Das war überhaupt nicht das, was er im Moment wollte. Heiraten … Warum erschreckte ihn das so? Warum zögerte er? Du wirst den Tag noch verfluchen, an dem du dein Glück mit beiden Händen weggeworfen hast . Und wenn nicht Charmaine, wen dann? Heiraten … Worauf wartete er eigentlich?
»Ich habe nie nur die Gouvernante in Ihnen gesehen. Im Gegenteil. Sie sind eine ganz besondere Frau, Charmaine. Eine kluge und attraktive Frau. Die gesellschaftliche Stellung war mir nie wichtig, und sie wird mir erst recht nicht diktieren, wen ich heirate. Denken Sie nur an meine Herkunft! In den Augen der Gesellschaft bin ich weniger wert als Sie.«
Seine Worte überraschten und ermunterten sie. »Und?«
Im Augenblick musste er sich nicht festlegen. Und es war auch nicht gelogen, wenn er sagte, dass er schon über eine Ehe mit ihr nachgedacht hätte. »Um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe noch keine Frau so sehr begehrt wie Sie, Charmaine. Und was die Ehe angeht: Ja, ich könnte mir vorstellen, Sie zu heiraten. Ich habe schon öfter daran gedacht, als Sie sich vielleicht vorstellen können. Doch ich kenne mich. Ich bin ein Schwerenöter und möchte Ihnen nicht wehtun. Sie sollen mich nicht hassen.« Sinnend sah er vor sich hin. »Ein Versprechen ist schnell gegeben, doch woher wissen wir, dass wir Jahre später noch genauso empfinden? Heute Abend begehre ich Sie, begehre Sie über alle Maßen, ja, ich liebe Sie. Aber ich bin nur ein Mann, Charmaine. Ich kann nicht versprechen, dass mir nie eine andere Frau den Kopf verdreht. Davor fürchte ich mich am meisten. Sich ewig zu lieben und zu achten? Ein solcher Schwur käme mir nur schwer über die Lippen.«
Wieder zog er sie in die Arme, und seine Lippen erstickten ihre Antwort. Gefühlvoll glitten Charmaines Hände über seinen Rücken und spürten die Kraft und Wärme seines Körpers. Unter Liebkosungen drängte Paul sie wieder zum Sofa, während seine Hände unablässig über ihren Körper wanderten, ihre Brüste und Schenkel streichelten und eine quälende Sehnsucht in ihrem Inneren entfachten. Ergeben sank sie in die Kissen, und er beugte sich halb kniend über sie und küsste sie. Doch als sie plötzlich das Gewicht seines Körpers auf ihren Schenkeln spürte, überkam sie Furcht, und sofort erwachte die Ablehnung wieder. Sie stützte sich auf die Ellenbogen hoch, um zu Atem zu kommen.
»Charmaine …«, murmelte er heiser. »Wegen einer Empfängnis müssen Sie sich keine Sorge …«
Sie runzelte die Stirn und war entsetzt, dass sie gar nicht so weit gedacht hatte. Aber die Ausrede kam ihr wie gerufen. »Das sagen Sie so leicht …«
Wieder beugte er sich über sie. »Es geht schließlich auch anders …«
Sie wandte den Kopf zur Seite und stemmte die Hände gegen seine Brust. »Ich kann nicht«, wimmerte sie. »Es tut mir leid, aber ich kann das nicht.«
Enttäuscht ließ Paul von ihr ab und rückte ans andere Ende des Sofas. Doch als sie aufstand und ihm eine gute Nacht wünschte, hielt er sie auf. »Gehen Sie noch nicht, Charmaine. Dies ist doch unser letzter Abend auf der Insel. Ich werde Sie auch nicht mehr bedrängen, wenn Sie das nicht möchten. Bitte, setzen Sie sich noch ein bisschen zu mir.«
Erneut ließ sie sich von seinen Worten verführen und kehrte zum Sofa zurück. Er legte den Arm um sie, während er über ihr Haar strich und ihren Kopf sanft an seine Schulter drückte. So saßen sie bis spät in die Nacht einträchtig beisammen und redeten und starrten in die Flammen …
Heiliger Abend 1837
Fast den gesamten Tag über schmückten die Mädchen zusammen mit Charmaine das Haus. Sie flochten Kiefern- und Eibenzweige zu festlichen Girlanden, knoteten Früchte an Bändern hinein und verzierten mit ihren Kunstwerken den Kamin, das Treppengeländer und die französischen Glastüren.
Nach dem Dinner versammelte sich die ganze Familie im Wohnraum. Es war kühl, fast weihnachtlich kühl, sodass Paul im Kamin Feuer machte. Frederic bat die Thornfields, Jane Faraday und Fatima herein, um den Abend zusammen mit der Familie bei Keksen und Eierpunsch zu verbringen. Felicia und Anna waren bei Felicias Eltern in der Stadt eingeladen. Die Zwillinge sangen Weihnachtslieder, und Charmaine begleitete sie auf dem Piano. Als sie müde wurde, setzte sich Paul zur Überraschung aller an das Instrument und begleitete seine Schwestern.
Anschließend bettelten die Zwillinge, dass sie
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