Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Ryan überreden, dass sie dir, was die mathematischen Probleme angeht, zur Seite steht. Was nützt schließlich das ganze Wissen, wenn man es nicht auch irgendwann anwendet?«
»Da gebe ich dir recht, Papa.«
»Ich dachte, dass du mir zustimmst.« Frederic grinste in sich hinein. »Also, dann bis morgen Abend?«
»Gern, Papa. Ich bin außerdem ziemlich müde.« Mit diesen Worten stand sie auf und streckte sich. Dann küsste sie ihn zart auf die Wange. Als sie die Tür öffnete, rief Frederic noch einmal ihren Namen. »Ja, Papa?«
»Du bist schon eine richtige junge Dame, Yvette … und deiner Mutter sehr ähnlich.«
»Mama?«, fragte sie erstaunt. »Aber Jeannette sieht ihr doch viel …«
Er ließ sie nicht ausreden. »Nein, nein, Yvette, du bist genau wie deine Mutter.«
Spontan rannte Yvette zu ihm zurück, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich. Dann lief sie verlegen davon. Schweren Herzens sah Frederic ihr nach. Es war noch gar nicht so lange her, dass Colette hier am Schreibtisch gesessen und ebendiese Arbeit erledigt hatte.
Die letzten Oktobertage fielen ungewöhnlich kühl und stürmisch aus und kündeten den nahenden karibischen Winter an. Charmaine konnte über Frederics Verwandlung nur staunen. Fast täglich begleitete er George, um den Fortgang der Arbeiten im Hafen, in der Sägemühle und auf den Zuckerrohrfeldern zu überwachen und sein Reich wieder in Besitz zu nehmen. Wenn er einmal zu Hause blieb, verbrachte er die meiste Zeit im Arbeitszimmer. Seine Ausdauer wuchs zusehends, und auch seine gelähmte Seite kräftigte sich von Tag zu Tag. Er benutzte zwar noch den Stock, doch sein Hinken war deutlich besser geworden.
Wie versprochen widmete sich Frederic an den Samstagen seinen Töchtern. Zu Beginn strengten ihn die Ausflüge zwar an, doch er gab nicht klein bei. Charmaine konnte nur staunen, was er sich alles einfallen ließ und wie viel die Mädchen bei ihren Ausflügen über die Geschäfte der Duvoisins lernten. In früheren Zeiten hatte Frederic der liebevollen Jeannette oft ein wenig nähergestanden als ihrer Schwester, doch nun blühte auch Yvette unter seiner Zuwendung auf. Inzwischen freuten sich die Mädchen geradezu auf die Ausflüge mit ihrem Vater und spekulierten oft schon während der Woche über ihr nächstes Ziel.
Charmaine dagegen fühlte sich in Gegenwart des Hausherrn noch immer gehemmt und wahrte stets eine gewisse Distanz. Die schrecklichen Enthüllungen hafteten noch zu frisch in ihrem Gedächtnis, als dass sie ihm trotz seiner Bemühungen um einen Neuanfang mit demselben Respekt wie früher hätte begegnen können. Dazu musste sie viel zu oft an das schreckliche Wort denken, das John hervorgestoßen und dem sein Vater nicht widersprochen hatte: Vergewaltigung . Hatte Frederic Colette wirklich Gewalt angetan? Oder galt eher, was er behauptete? Hatte er sie nur verführt ? Instinktiv hielt Charmaine die zweite Behauptung für wahrscheinlicher. Sie erinnerte sich an Colettes Bemerkungen: Vom ersten Augenblick an fühlte ich mich zu ihm hingezogen … Er sieht immer noch sehr gut aus … Ich liebe ihn noch immer … So sprach keine Frau über einen Mann, der ihr Gewalt angetan hatte. Nein, die Geschichte hatte sicher noch weitere Facetten. Aber selbst wenn man Frederic von der Vergewaltigung freisprach, rechtfertigte das noch lange nicht, dass er seinem Sohn die Freundin weggenommen hatte.
Paul schraubte seine Tätigkeit auf Charmantes im selben Maß zurück, in dem sein Vater die Geschäfte wieder selbst in die Hand nahm. Die Wochentage verbrachte er meist auf Espoir, doch am Freitagabend zog es ihn regelmäßig nach Charmantes zurück. Von nun an bestimmte Charmaine über seine Samstage. Ein Spaziergang über die Wiesen, eine Teestunde auf der Veranda oder hin und wieder ein Mittagessen im Dulcie’s wurden schnell zur lieben Gewohnheit. Charmaine war etwas überrascht, dass Paul ihre Gesellschaft seinen bisherigen Vergnügungen vorzog. Aber natürlich gefiel es ihr. Sie unterhielten sich völlig ungezwungen und ohne die früheren Spielchen und lachten öfter als zuvor. Zuweilen half ihr Pauls Zuspruch sogar über den Verlust des kleinen Pierre hinweg, wenn die schmerzliche Leere sie manchmal völlig unerwartet überfiel.
Agatha war über diese Entwicklung ganz und gar nicht begeistert, was sie vorzugsweise durch tadelnde Blicke zum Ausdruck brachte. Gleichzeitig umschmeichelte sie Paul nach Kräften. Offenbar hatte sie die verächtliche Drohung
Weitere Kostenlose Bücher