Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition)
1. Am Tag zuvor
N ur selten verirrte sich ein Fremder in die Ruelle-Gasse am Ende der Rue Münster. Schon gar nicht um diese Tageszeit, zu der die Touristen in den Braustuben der Luxemburger Altstadt saßen. Über der Straße lag Dunkelheit. Gnädig verhüllte sie die Baufälligkeit einiger Gemäuer.
Kein Haus glich dem anderen. Es gab hohe Gebäude und solche, die sich zu ducken schienen, jene, deren Farbe abblätterte, und Häuser, deren Fassaden in allen Farben des Regenbogens erstrahlten.
Tagsüber beschatteten bunt gestreifte Markisen die Läden im Erdgeschoss. Auf den Fensterbrettern der Wohnungen standen Kästen voller blühender Geranien. Rote, rosafarbene, weiße und lila Blüten leuchteten mit dem satten Grün der Blätter um die Wette. Nicht selten blieb ein Besucher entzückt vor dieser Farbenpracht stehen.
Doch nun waren die Markisen längst eingerollt und die Blüten hatten ihre Blätter zur Nacht geschlossen. Eine einzelne Laterne spendete gerade genug Licht, um den Bordstein zu beleuchten. In der Ferne erklang die Glocke einer Kirchturmuhr, sie schlug halb zwölf. Die meisten Bewohner der Ruelle-Gasse schliefen bereits. Nur aus Haus Nummer 13 drang Licht durch eines der Butzenfenster in der Dachgaube.
Susanna saß, ein Kissen hinter den Rücken gestopft, im Bett und las in einem dicken Wälzer. Vor einer ganzen Weile hatte Albin, Susannas Vater, Gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht. Sie sollte längst schlafen, doch das Buch ließ sie nicht los. Sie hatte es am Mittag im Regal mit den Lieblingsbüchern ihrer Mutter gefunden. Es war ihr vorher nie aufgefallen. Dabei hätte sie schwören können, alle Bücher dort zu kennen.
Seit dem Nachmittag schmökerte sie, die Geschichte spielte im Orient. Susanna liebte Märchen aus 1001 Nacht. Daher hatte sie, gleich, nachdem der Vater zu Bett gegangen war, nach der Taschenlampe in der Nachttischschublade gekramt. Gerade las sie:
Die Menschen zerstörten die Karaffen, in denen die Geistwesen auf ihre Befreiung hofften. Viele Geister verloren ihr Leben, einige verloren den Verstand und töteten in ihren Rachegelüsten wahllos Menschen. Auf beiden Seiten wuchs die Angst.
Die Geistwesen erkannten die Notwendigkeit, zu fliehen. Sie gelangten an den Rand des Goldenen Ozeans. Es gab kein zurück. In der Ferne erklangen Jagdhörner. Unruhig wirbelten die Geistwesen umher. Wie auf ein unsichtbares Signal hin setzten sie sich in Bewegung. Als der letzte Geist in den Ozean eintauchte, galoppierten die Verfolger auf den Strand. Und die Jäger begannen zu jubeln.
Wie wenig die Menschen doch wussten. Von diesem Moment an würden sie auf sich gestellt sein.
Susanna ließ das Buch sinken. Diese Geschichte berührte sie sehr. Mit dem Handrücken wischte sie sich eine Träne von der Wange. Unschlüssig starrte sie die Buchstaben an. Eines erschien ihr unlogisch. Wenn eine Karaffe zerstört wurde, müsste der Geist doch entkommen? Wieso klang es so, als kämen die Wesen ums Leben? Susanne gähnte. Ob sie weiterlesen sollte? Oder sollte sie besser versuchen zu schlafen?
Sie kam nicht dazu, eine Entscheidung zu treffen, denn aus dem Flur drang ein Fluch ihres Vaters. Er war über ein strategisch aufgestelltes Paar Stiefel gestolpert.
„Verdammt“, schimpfte er. Schnell schaltete Susanna die Taschenlampe aus und rutschte ein Stück tiefer in ihrem Bett.
Die Tür öffnete sich. Ein schwacher Lichtschein fiel hindurch.
„Susanna? Schläfst du?“, flüsterte er.
Sie schwieg. Gleichmäßig atmen, befahl sie sich .
„Denk daran - morgen ist Schule. Langsam bist du alt genug, um vernünftig zu sein. Außerdem solltest du nicht unter der Bettdecke lesen. Mit der Funzel machst du dir nur die Augen kaputt.“ Ehe er ging, wisperte er noch: „Letztendlich ist es deine Entscheidung.“
Als er die Tür leise hinter sich schloss, atmete Susanna auf. Was das wieder sollte? Erst spielte er den Kontrollfreak und dann wieder dieses ‚Es ist deine Entscheidung‘. Sie bildete sich ein, Resignation herausgehört zu haben. Sie hasste das. Entweder hüh oder hott, hatte ihre Mutter stets gesagt. Susanna seufzte. Es wäre viel einfacher, würde er klare Ansagen erteilen.
Sie setzte sich auf. Mit einem Klick schaltete sie erneut die Taschenlampe ein. Das Buch war zwischen die Falten der Bettdecke gerutscht. Susanna tastete danach und zog es hervor. Sie schlug es auf, doch statt darin zu lesen, dachte sie an ihre Mutter.
Vor
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