Die Macht des Zweifels
zwischen seinen Schuhen. »Ich werde nicht mehr hier sein, Nina.«
»Du wirst ⦠wie bitte?«
»Ich gehe fort. Im Nordwesten, an der Pazifikküste, sind ein paar Stellen frei, und vielleicht suche ich mir da was.« Er holt tief Luft. »Da wollte ich schon immer mal hin. Nur eben nicht ohne dich.«
»Patrick â«
Unsagbar zärtlich küÃt er mich auf die Stirn. »Du schaffst das schon«, murmelt er. »Genau wie früher.« Er schenkt mir ein trauriges Lächeln zum Abschied. Und dann geht er den Gang hinunter und läÃt mich stehen, so daà ich allein meinen Weg zurückfinden muÃ.
Die Toilettentür unten an der Treppe fliegt auf, und plötzlich steht Quentin Brown keine anderthalb Meter vor mir. »Mrs. Frost«, stottert er.
»Ich finde, es wird langsam Zeit, daà Sie mich Nina nennen.« Es ist ein Verstoà gegen das Berufsethos, wenn er in Fishers Abwesenheit mit mir spricht, und das wissen wir beide. Doch selbst das erscheint mir mittlerweile nicht mehr ganz so tragisch. Als er nichts erwidert, will ich um ihn herumgehen. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, meine Familie wartet auf mich.«
»Ich muà zugeben«, sagt Quentin Brown hinter mir her, »daà mich Ihre Entscheidung verblüfft hat.«
Ich drehe mich um. »Dem Richter die Urteilsfindung zu überlassen?«
»Ja. Ich weià nicht, ob ich mich als Angeklagter darauf eingelassen hätte.«
Ich schüttele den Kopf. »Wissen Sie, ich kann mir Sie einfach nicht als Angeklagten vorstellen.«
»Könnten Sie sich vorstellen, daà ich Vater bin?«
Das erstaunt mich. »Nein. Ich wuÃte gar nicht, daà Sie Familie haben.«
»Einen Sohn. Sechzehn.« Er schiebt die Hände in die Taschen. »Ich weiÃ, ich weiÃ. Sie haben sich selbst so in die Vorstellung hineingesteigert, daà ich der skrupellose Schurke bin, daà es Ihnen schwerfällt, mir auch nur einen Hauch von Mitgefühl zuzusprechen.«
»Na ja.« Ich zucke die Achseln. »Skrupelloser Schurke nicht gerade.«
»Dann eben ein Fiesling?«
»Das haben Sie gesagt, Kollege«, entgegne ich, und wir müssen beide schmunzeln.
»Andererseits können Menschen einen immer wieder überraschen«, sinniert er. »Zum Beispiel eine Staatsanwältin, die einen Mord begeht. Oder ein stellvertretender Generalstaatsanwalt, der nachts am Haus einer Angeklagten vorbeifährt, nur um sich zu vergewissern, daà alles in Ordnung ist.«
Ich schnaube. »Wenn Sie tatsächlich bei mir vorbeigefahren sind, dann nur um sich zu vergewissern, daà ich noch da war.«
»Nina, haben Sie sich eigentlich nie gefragt, wer aus Ihrem Büro Ihnen den Laborbericht zugespielt hat?«
Mir klappt der Unterkiefer runter. »Und übrigens«, sagt Quentin Brown, »mein Sohn heiÃt Gideon.«
Leise pfeifend nickt er mir zu und trabt dann die Treppe hinauf.
Im Gerichtssaal ist es so ruhig, daà ich Caleb hinter mir atmen hören kann. Auch das, was er mir zugeraunt hat, bevor wir hineingingen, hallt in der Stille nach: Ich bin stolz auf dich.
Richter Neal räuspert sich und beginnt. »Die Beweise in diesem Fall belegen eindeutig, daà die Angeklagte Nina Frost am dreiÃigsten Oktober 2001 eine Handfeuerwaffe kaufte, sie verbarg und in einen Gerichtssaal in Biddeford schmuggelte. Ebenfalls zweifelsfrei bewiesen ist, daà sie sich Pater Szyszynski näherte und ihn absichtlich und wissentlich viermal in den Kopf schoÃ, was zu seinem Tod führte. AuÃerdem haben die vorgelegten Beweise ergeben, daà Nina Frost zum Zeitpunkt der Tat irrtümlich davon ausging, daà Pater Szyszynski ihren fünf Jahre alten Sohn sexuell miÃbraucht hatte.«
Ich neige den Kopf, jedes Wort eine Ohrfeige. »Was also konnte vor diesem Gericht nicht zweifelsfrei bewiesen werden?« fragt der Richter rhetorisch. »Vor allem die Behauptung der Angeklagten, sie sei zum Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig gewesen. Zeugen haben ausgesagt, daà sie überlegt und methodisch gehandelt hat, um den Mann zu töten, der, wie sie glaubte, ihrem Kind ein Leid zugefügt hatte. Und die Angeklagte war eine erfahrene Staatsanwältin, die sehr genau wuÃte, daà jeder Mensch, der eines Verbrechens beschuldigt wird â Pater Szyszynski nicht ausgenommen â, bis zum Beweis seiner Schuld vor einem ordnungsgemäÃen
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