Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
fliehen sollte, und sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn ihr die Flucht gelänge.
Schon der nächste Blick über die Schulter zeigte ihr, dass diese Frage für den Moment müßig war. Die Männer waren ihr nach wie vor auf den Fersen. Sanchia erkannte den Größeren unter ihnen an der Art, wie er suchend seinen Kopf hin und her bewegte, obwohl er wie die beiden anderen Verfolger maskiert war. Wie tausend andere um ihn herum trug er eine weiße, bis zum Mund reichende Maske und eine tiefgezogene, mit Federn geschmückte Kappe. Er sah ganz harmlos aus, doch Sanchia wusste ohne jeden Zweifel, dass er unter seinem Umhang ein Schwert und einen Dolch verbarg, mit dem er sie töten würde, sobald er ihrer habhaft würde.
Die beiden anderen hielten sich in seiner unmittelbaren Nähe auf. Ebenfalls maskiert und nicht ganz so groß wie ihr Anführer, aber nicht weniger eifrig in ihrem Bestreben, ihre Beute aufzuspüren und mundtot zu machen, reckten sie sich auf die Zehenspitzen und versuchten, ihr Ziel in der Menge ausfindig zu machen.
Sanchia duckte sich unwillkürlich und stöhnte auf, als der Schmerz im selben Moment erneut einsetzte. Die Wehen waren heftiger geworden, seit sie die Piazza erreicht hatte, doch sie hatte gehofft, dass sie vergehen würden, sobald sie sich ein paar Minuten ausgeruht hätte.
Der Schnitt an ihrer Wange hatte auch wieder angefangen zu bluten, und die Stelle, an der ihr Ohr aufgeschlitzt worden war, fühlte sich nicht länger taub an, sondern pochte wie von einem eigenen Herzschlag erfüllt. Zum ersten Mal, seit sie den Palazzo verlassen hatte, wagte sie, die Verletzungen zu berühren. Sie hob zögernd die Finger und legte sie zuerst auf den Schnitt, der sich quer über ihre Wange zog, und dann auf die wunde Stelle an ihrer Ohrmuschel. Sie zuckte vor Schmerz zusammen, doch zu ihrer eigenen Überraschung waren die Wunden weniger tief, als sie angenommen hatte. Vor lauter Erleichterung stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie hatte gefürchtet, entstellt zu sein und ihm nicht mehr zu gefallen.
Bei dieser Überlegung konnte sie kaum ein hysterisches Lachen unterdrücken. Es dürfte ihm wohl gleichgültig sein, ob ihr Gesicht und ihr Ohr zerschnitten wären, wenn sie mit einer Dolchwunde im Leib tot aufgefunden würde!
Dann spielte auch dieser Gedanke keine Rolle mehr, denn Sanchia bemerkte entsetzt, dass sie entdeckt worden war. Einer aus dem Verfolgertrio deutete in ihre Richtung, woraufhin sich alle drei augenblicklich in Bewegung setzten und begannen, die Umstehenden mit groben Püffen beiseitezudrängen.
Sanchia versuchte, sich durch die kostümierte Menge weiterzuschieben und rempelte dabei notgedrungen die Leute an. Menschen, die als Teufel, Mohren, Lumpengesindel oder Tiere verkleidet waren, wandten sich ihr unwillig zu, um sich gleich darauf wieder auf das Schauspiel vor dem Glockenturm zu konzentrieren.
Sanchia wich einer Gruppe angetrunkener, in Frauenkostümen steckender Jünglinge aus, duckte sich hinter einen Stand, an dem stark riechende, in Lake eingelegte Sardinen verkauft wurden, und bewegte sich von dort aus Schritt für Schritt weiter durch das Menschengewühl auf die Arkaden des Palazzo Ducale zu.
Der Doge und sein Gefolge betrachteten das Geschehen auf dem Platz von der Loggia aus. Musiker, Bewaffnete mit Helm und Lederharnisch sowie Amtsträger in vollem Ornat umrahmten die Nobili in einer Aufstellung, deren strenge Ordnung zu der prächtigen Farbenvielfalt ihrer Kleidung einen merkwürdigen Gegensatz bildete.
Doch was war nicht merkwürdig an dieser Stadt und ihren Menschen! Sanchia konnte sich keinen Ort auf Erden vorstellen, an dem Entzücken und Entsetzen so nah beieinander lagen wie in dieser scheinbar im Meer schwimmenden Lagunenstadt, die von ihren Bewohnern La Serenissima genannt wurde.
Vor den Augen des Dogen und seines Gefolges wurde das zweite Schwein über den Rand der Aussichtsplattform gestoßen. Es stürzte wie ein Stein aus der Höhe herab, und sein markerschütterndes Quieken brach erst ab, als es mit einem dumpfen Klatschen auf den Ziegeln der Piazza aufschlug. Blut spritzte hoch und besudelte die vorwitzigen Gaffer, die sich zu nah an die Absperrung herangewagt hatten.
Die Menge quittierte es mit einem ausgelassenen Kreischen. Der Doge, die Damen aus seinem Gefolge und die Würdenträger applaudierten höflich, während bereits das nächste Schwein vom Turm fiel und dicht neben den beiden anderen landete. Geheul brandete auf, als gleich
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