Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
darauf das vierte Schwein folgte. Es landete auf einem der anderen Kadaver und lebte nach dem Aufschlag noch einige Augenblicke. Sanchia konnte erkennen, dass es mehrere Male heftig zuckte, bevor es mit einem erstickten Grunzen verendete.
Sanchia unterdrückte beim Anblick der zerschmetterten Körper nur mühsam ein Würgen. Weitere Schweine stürzten vom Turm, doch sie bekam diese Zurschaustellung roher Gewalt nur noch aus den Augenwinkeln mit, während sie hastig dem Rand der Menge zustrebte.
Sanchia schaute sich um. Ihre Verfolger waren nirgends zu sehen. Sie drängte auf der Suche nach einem Versteck weiter.
Als sie die beiden vor der Mole aufragenden Granitsäulen sah, erschauerte sie. Auf einer ihrer seltenen heimlichen Ausflüge war ihre Gondel dort vorn auf dem Wasser vorbeigeglitten. Sie hatten nebeneinander im Schatten der Felze gesessen, das Verdeck herabgezogen bis auf einen Spalt, durch den sie die sonnenüberstrahlte Silhouette der Gebäude rund um den Markusplatz aufragen sahen. Es war ihr wie ein seltsames, fremdartiges Bild erschienen: die scheinbar endlosen, wie Silber schimmernden Arkadenbögen der Palastfassade, die orientalisch anmutenden Kuppeln und Türmchen der Basilika, der Glockenturm. Und eben jene beiden Säulen auf der Piazetta, deren eine mit der steinernen Figur des heiligen Theodor gekrönt war, während auf der anderen der geflügelte Löwe, das Sinnbild des Apostels Markus thronte, des Schutzheiligen der Stadt. Dessen Gebeine waren unter abenteuerlichen Umständen im Jahre des Herrn 828 aus Alexandria geraubt und nach Rialto gebracht worden, um seither als Reliquie in San Marco verehrt zu werden. Auch der Löwe war geraubt und später als Wahrzeichen der Stadt aufgestellt worden, wenngleich er nichts weiter als eine heidnische Chimäre war, deren Flügel man später hinzugefügt hatte. Das alles hatte ihr Geliebter ihr ins Ohr geflüstert, seine Stimme ein schwacher, erregender Hauch an ihrer Schläfe und ihrer Wange, während das Wasser um sie herum plätscherte und die Sonne auf dem Dach der Felze glühte. Der Gondoliere sang leise ein altes Fischerlied, doch Sanchia hörte ihm nicht zu, denn sie hatte nur Ohren für ihren Geliebten. Sie hätte ihm stundenlang lauschen können, nur um den Klang seiner Stimme zu hören. Sie liebte es, wenn er ihren Namen aussprach, ihn hin und wieder fallen ließ wie eine seltene Perle, ein Kleinod, das er nur ihr zu Ehren geschaffen hatte. Er nannte sie Sanchia , weil er diesen Namen mochte und weil er ihren wirklichen Namen nicht aussprechen konnte. Sie liebte den neuen Namen ebenfalls. Sie hatte ihn als eine Art Geschenk betrachtet, ihn gleichsam übergestreift wie ein kostbares Kleid. Es war, als könnte sie mit diesem Namen die Blößen bedecken, die zurückgeblieben waren, als man ihr das alte Leben wie eine nutzlose Hülle entrissen hatte.
Ihr Geliebter hatte ihre Hand genommen und sie auf seine Brust gelegt, dort, wo sie die Wärme seiner Haut und seinen Herzschlag spüren konnte. Der Moment war ihr so kostbar erschienen, dass ihr die Kehle eng geworden war. Seine Worte waren das vertraute Gemisch aus Venezianisch, Latein und Französisch, da er ihre Sprache nicht beherrschte und sie zu wenig Gelegenheit gehabt hatte, die seine zu lernen. Dennoch hatte sie nicht sofort begriffen, was er meinte. Erst, als er den Inhalt seiner Worte mit einer knappen, quer über die Kehle gezogenen Handbewegung verdeutlichte, war ihr klar, dass hier auf der Piazetta zwischen den Säulen die von den Gerichten verhängten Todesstrafen vollstreckt wurden.
Sanchia wandte sich nach links und drängte sich durch das Menschengewühl beim Dogenpalast. Immer mehr Schaulustige strömten über die Riva in Richtung Piazza. Ein Betrunkener trat ihr in den Weg, laut grölend und eine Flasche schwenkend, aus der es durchdringend nach billigem Fusel stank. Er packte Sanchia bei den Schultern und schrie etwas, das sie nicht verstehen konnte, doch die unmissverständliche Art, in der er seine freie Hand zuerst in ihr Haar grub und dann an ihre Brüste griff, ließ keinen Zweifel, worauf er aus war. Sie stieß ihn beiseite, und er torkelte davon, lallend und schimpfend, bis er nach ein paar Schritten die Flasche an den Hals setzte, um einen tiefen Zug zu nehmen.
Sanchia zog den Ausschnitt ihres Kleides zurecht, doch die Verschnürung hatte sich gelöst und das Gewand drohte über die Schultern herabzurutschen.
Zum ersten Mal merkte sie, wie kalt es war. Zu Beginn ihrer
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