Die Maechtigen
dekoriert ist, eine Tradition des Archivs. »Dahinten.«
Etwas abgesondert von dem Besucherstrom steht eine Frau mit kurzem, schwarz gefärbtem Haar. Es ist noch dunkler gefärbt als das von Joan Jett. Sie hebt ihr Kinn und betrachtet mich ebenso aufmerksam wie ich sie. Sie hat viel Augen-Make-up aufgelegt, ihre Gesichtshaut ist blass, und sie trägt Silberringe an Daumen und kleinem Finger. Sie sieht aus, als käme sie direkt aus New York und nicht aus Washington. Worauf ich jedoch überhaupt nicht vorbereitet bin … sie sieht irgendwie älter als ich aus. Als hätten ihre rotbraunen Augen schon zwei Leben gesehen. Aber so ist sie schon immer gewesen. Sie war die Erste, die ich geküsst habe, aber ich weiß, ich war nicht ihr Erster. Sie war das Mädchen, das mit den Typen zwei Klassen über uns ausging. Sie war erfahrener. Reifer.
Das genaue Gegenteil von Iris.
»Clemmi …« Ich bewege lautlos die Lippen.
»Benjy …« Auch sie bewegt nur den Mund. Und die Wangen, als sie lächelt und den Spitznamen benutzt, mit dem meine Mutter mich immer gerufen hat.
Die Synapsen in meinem Gehirn explodieren, und ich stehe wieder in der Kirche, in der ich erfahren habe, dass Clementine ihren Vater nie kennengelernt hat. Ihre Mutter war damals neunzehn und hat nie verraten, welcher Junge es war. Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war.
Das und der Kuss damals hat mich zu der Annahme verleitet, Clementine Kaye wäre mein Schicksal; besonders in den drei Wochen, als sie wegen eines Drüsenfiebers zu Hause bleiben musste und ich der Auserwählte war, der ihr die Hausaufgaben nach Hause bringen durfte. Dann würde ich in ihrem Zimmer sein, neben ihrer Gitarre und ihrem Büstenhalter, he, ich war in der Pubertät! Die Aufregung war so groß, dass meine Nase zu bluten anfing, als ich an ihre Haustür klopfte.
Wirklich.
Clementine sah es und half mir sogar mit Papiertaschentüchern aus, die ich mir in die Nasenlöcher stopfte. Ich war der zu kurz geratene Junge. Ein leichtes Opfer. Aber sie hat sich nie über mich lustig gemacht, mich nie ausgelacht, und sie hat die Sache mit dem Nasenbluten auch niemandem weitererzählt.
Heute glaube ich nicht mehr an Schicksal. Ich glaube nur an Geschichte. Das wird Orlando nie verstehen. Es gibt nichts Mächtigeres als Geschichte, und genau sie ist es, die mich mit dieser Frau verbindet.
»Lass dich anschauen«, summt sie. Ihre Stimme klingt warm und gefühlvoll; es hört sich an, als singe sie, selbst wenn sie einfach nur spricht. Es ist die Stimme, die ich von der Highschool kenne, nur ein wenig rauer und älter. In den letzten Jahren hat sie bei einem kleinen Jazzsender in Virginia gearbeitet. Jetzt ist mir klar, warum. Schon ihre ersten Worte gehen mir direkt unter die Haut. Es ist ein Gefühl, als sei alles möglich.
Ich bin verknallt.
Im letzten Jahr habe ich völlig vergessen, wie sich das anfühlt.
»Beecher, du siehst so … so gut aus.«
Mein Herz hämmert los, sprengt gleich ein Loch in meine Brust. Hat sie gerade …?
»Das tust du, Beecher … Du hast dich wirklich gut gemacht …«
Mein Satz. Das ist mein Satz, ich muss mir sofort einen neuen ausdenken. Such einen guten aus. Etwas Nettes. Aufrichtiges. Das ist jetzt deine Chance. Sag ihr etwas so Perfektes, dass sie davon träumen wird.
»Also … Clemmi«, stammle ich und rolle von meinen Zehen auf die Hacken und wieder zurück. Dann bemerke ich ihr Nasenpiercing, ein funkelnder, silberner Knopf, der mich anzublinzeln scheint. »Hast du Lust, dir die Unabhängigkeitserklärung anzuschauen?«
Ich erschieß mich.
Sie senkt den Kopf, und ich warte darauf, dass sie zu lachen anfängt.
»Das würde ich sehr gerne, aber …« Sie greift in ihre Handtasche und holt ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Zwei alte hölzerne Armreife klappern an ihrem Handgelenk. Beinahe hätte ich es vergessen. Der wahre Grund, warum sie hergekommen ist.
»Bist du sicher, dass du dies für mich tun kannst?«, will Clementine wissen.
»Nun hör aber auf!«, erwidere ich. »Geheimnisse sind meine Spezialität.«
2. Kapitel
Siebzehn Jahre früher
Sagamore, Wisconsin
Jeder kriegt mit, wenn auf dem Schulhof eine Prügelei ausbricht. Keiner braucht auch nur ein Wort zu sagen, es funktioniert telepathisch. Von Anbeginn der Zeiten bis heute weiß das menschliche Tier, wann ein Kampf beginnt. Siebtklässler wissen es nur früher als alle anderen.
So war es auch an jenem Tag, direkt nach dem Mittagessen. Alle sprachen noch
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