Die Maechtigen
Den schönen Teil mit der Statue kann man nicht mal sehen.«
»Aber es ist real«, antwortet sie und schaut ebenfalls zum Denkmal hinüber. »Und jetzt hast du es selbst einmal gesehen. Nicht nur in einem Buch. Nicht nur in alten Dokumenten. Du hast es hier gesehen, in der klirrenden Kälte, auf der Brücke, und so, wie kein Tourist es jemals zu sehen bekommt.«
Ich halte mich immer noch krampfhaft am Lenkrad fest. Den Blick habe ich wieder gesenkt, und ich weigere mich, noch länger hinauszusehen. Aber ich höre zu.
»Das war der Teil, der mir gefallen hat«, räume ich ein.
»Du klingst überrascht.«
»Das bin ich auch«, gebe ich zu, und mein Herz schlägt plötzlich wie rasend. »Aus diesem Blickwinkel habe ich es noch nie gesehen.«
Clementine wendet sich vom Jefferson-Denkmal ab und schaut kurz zu mir, dann geht ihr Blick zurück über die Schulter und wieder zu mir. Unsere Blicke treffen sich. Sie lächelt nicht, bleibt ernst und eindringlich. Aber ich spüre, dass sie mein Vertrauen zu schätzen weiß.
»Sie hat mich abserviert«, platzt es aus mir heraus.
»Wie bitte?«
»Meine Verlobte. Iris. Du hast nach ihr gefragt. Sie hat mich einfach verlassen.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagt sie. »Es war ziemlich offensichtlich.«
»Aber nicht wegen eines anderen Mannes.«
»Etwa wegen eines Mädchens?«, fragt Clementine.
»Schön wär’s. Dann könnte ich wenigstens eine gute Geschichte erzählen.«
An dieser Stelle müsste sie eigentlich danach fragen, was denn passiert ist. Aber sie tut es nicht.
Ich halte den Kopf gesenkt und umklammere nach wie vor das Lenkrad. In meiner Erinnerung durchlebe ich diesen Moment noch einmal, und sie sieht meinen Schmerz.
»Beecher, wenn du nicht darüber sprechen willst, musst du es nicht. Es spielt keine Rolle.«
»Sie hat mich aus dem schlimmsten Grund überhaupt verlassen«, sage ich und höre die Sirenen immer näher kommen. »Nämlich aus gar keinem Grund.«
»Beecher …«
Ich presse die Zähne zusammen, damit es nicht alles herausplatzt. »Ich meine, wenn sie sich in jemand anderen verliebt oder ich etwas falsch gemacht und sie in irgendeiner Weise enttäuscht hätte … Dann hätte ich es wenigstens verstanden. Stattdessen hat sie gesagt, es gäbe keinen besonderen Grund. Gar keinen. Es war nur wegen mir. Ich war … nett. Zuvorkommend. Sie hat einfach nichts mehr für mich empfunden.« Ich hebe den Blick und sehe Clementine an. Sie hat den Mund leicht geöffnet. »Ich glaube, sie fand mich einfach sterbenslangweilig. Das Schlimmste ist, dass man spürt, ob jemand recht hat, wenn er etwas Gemeines über dich sagt.« Clementine beobachtet mich vom Beifahrersitz.
»Darf ich dir etwas sagen?«, fragt sie schließlich. »Es hört sich so an, als sei Iris echt eine blöde Kackkuh.«
Ich muss lachen, fast verschlucke ich mich dabei.
»Und darf ich dir noch etwas sagen, Beecher? Ich glaube nicht, dass du in die Vergangenheit verliebt bist. Ich glaube, du hast Angst vor der Zukunft.«
Ich hebe den Kopf und drehe mich zu ihr herum. Als wir das Sankt Elizabeth verließen, sagte Clementine, am schlimmsten sei es gewesen, dass jetzt, nachdem sie Nico getroffen hatte, so vieles in ihrem Leben plötzlich einen Sinn hatte. Mir ist klar, dass ich jetzt übertreibe und melodramatisch bin, wir hätten das Gespenst von Iris nicht heraufbeschwören sollen, aber seit Clementine in mein Leben zurückgekehrt ist, wirkt mein Leben ein wenig aus den Fugen. Aber es hat definitiv mehr Sinn als vorher. Ich beuge mich zum Beifahrersitz hinüber, zu Clementine. Sie erstarrt. Aber sie zuckt nicht zurück. Langsam streiche ich mit den Fingern über ihre Wange und berühre die Spitzen ihres kurzen schwarzen Haares. Als ich meine Lippen auf ihre drücke, sie langsam öffne, werde ich von ihrem Geschmack überwältigt; ihr Lipgloss schmeckt nach einer Mischung aus Karamell und einem Hauch Pfirsich.
Manche Leute können wirklich großartig küssen.
Ich gehöre nicht dazu.
Und ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob Clementine dazugehört. Aber auf jeden Fall ist sie ziemlich nahe dran.
»Du bist besser geworden seit dem Bandwettbewerb«, flüstert sie. Ihr Atem geht schneller.
»Daran erinnerst du dich?«
»Also wirklich, Beecher … wie könnte ich meinen ersten Kuss vergessen?«, fragt sie. Ihre Lippen bewegen sich unter meinem Mund.
Jetzt beuge ich mich nicht mehr zu ihr. Sie lehnt sich an mich.
Ihr Duft ist einfach umwerfend … und ihr kurzes schwarzes Haar, das
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