Die Maechtigen
farbige Exemplar bekommen. Aber sie hat eine Kopie behalten. Nur für sich.
»Heilige Muttergottes! Was haben Sie mit meinem Mädchen gemacht?«, ertönt eine heisere Stimme.
Ich fahre erschrocken hoch und schaue zum Haus. Aber ich kann nichts erkennen …
»Du da! Hast du mich nicht gehört?«
Ich orientiere mich an der Stimme; sie lenkt mich zu den Stufen aus geborstenen Ziegelsteinen und zur Eingangstür von Clementines Haus. Durch das Fliegengitter in der offenen Tür sehe ich im Schein des Fernsehers die Umrisse einer alten Frau mit einem weißen Bubikopf.
»Sie hat gesagt, sie würde zurückrufen, hat sie aber nicht!«, schreit die Frau. Dann stößt sie die Fliegentür auf und tritt in ihrem verblichenen rosa Trainingsanzug in die Kälte hinaus. Sie humpelt die Stufen hinunter.
Und kommt direkt auf uns zu.
49. Kapitel
»Clemmi, es wäre ganz gut, wenn du jetzt aufwachen würdest!« Ich rüttle sie wach. Als ich die Wagentür öffne, steigt die Frau, die ich auf etwa Ende sechzig, vielleicht Anfang siebzig schätze, schon die Stufen herunter. Sie ist dünn und ziemlich groß, und die natürliche Eleganz ihrer klaren Gesichtszüge wird durch die leicht gebeugte Haltung, die das Alter mit sich bringt, ein wenig getrübt.
»Und ich friere!«, schreit sie. »Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
»Nan, geh schnell wieder rein!«, bittet Clementine sie. Sie ist mittlerweile aufgewacht und springt förmlich aus dem Wagen.
Nan. Oma. Das hier ist Clemmis Großmutter .
»Sag du mir nicht, wo ich hinzugehen habe!«, ruft die Großmutter und zieht ihre hellblauen Augen zusammen. Sie scheinen in der Nacht förmlich zu glühen. Als sie den Fußweg erreicht hat, schleudert sie Clementine eine Flasche Pillen entgegen. »Zum Abendessen … du weißt genau, dass ich meine Medizin mit dem Abendessen einnehmen muss.« Dann fährt sie zu mir herum. »Glauben Sie ja nicht, dass ich hier von Drogen spreche. Darmkrebs, ich habe Krebs in meinem Darm!«, stößt sie hervor und klopft an ihren Oberschenkel. Die Ausbuchtung unter ihrer Trainingshose habe ich bis jetzt nicht bemerkt. Dort trägt sie den Beutel für ihren künstlichen Darmausgang.
»Was bist du für ein Mensch, dass du mich hier alleine lässt, wo ich doch nicht einmal meine Medizinflasche allein aufmachen kann?«
»Nan, es tut mir leid …«
Zuerst vermute ich, dass Clementine ihre Großmutter nur zu beruhigen sucht, aber als ich bemerke, wie sie ihrem Blick ausweicht … Sie hat schreckliche Angst vor dieser Frau. Ganz links von uns am Ende des Häuserblocks höre ich ein lautes Klirren, als würde eine Flasche über den Beton rollen. Clementine und ihre Großmutter reagieren nicht darauf. Wird wohl eine Katze gewesen sein.
»Natürlich tut es dir leid«, schimpft die Großmutter und reißt Clementine die geöffnete Pillendose aus der Hand. Dann fährt sie wieder zu mir herum. »Wer sind Sie überhaupt? Haben Sie ihr das angetan?«
»Was angetan?«, frage ich.
»Nan, bitte!«, fleht Clemmi.
»Wissen Sie, was diese Chemo kostet? Zweihundert Dollar pro Flasche … und zwar trotz Krankenversicherung.«
»Nan …!«
Die Frau hält inne und sieht Clemmi an. »Hast du mich gerade angeschrien?«
»Sprich nicht so mit ihm.«
Nan kocht sichtlich. Dann schiebt sie ihren Unterkiefer zur Seite und lässt das Gelenk knacken, als würde sie eine Waffe spannen. Es ist wirklich zum Fürchten, und ein kurzer Blick auf Clementine macht mir klar, dass es ihr genauso geht.
»Mir ist klar, dass du nur auf meinen Tod wartest«, erklärt Nan.
»Ich möchte absolut nicht, dass du stirbst«, widerspricht Clementine. »Wenn dem so wäre, würde ich mich kaum um dich kümmern.«
»Du kümmerst dich um mich? Ich bin keine Katze, und das hier ist mein Haus. Du lebst bei mir.«
Am Ende des Häuserblocks fällt eine Autotür zu. Ich versuche, etwas zu erkennen, aber es ist zu weit weg. Verdammt! Jedenfalls war das niemals eine Katze.
»Clemmi …« Ich versuche die beiden unterbrechen.
»Ich will mich nicht mit dir streiten, Nan. Nicht heute Abend.«
»Ach, und warum nicht? Wegen deines Freundes in seinem schönen neuen Anzug, ja? Hast du Angst, dass er sieht, was du wirklich bist … das Mädchen, das seinen Job beim Radiosender verloren hat und froh ist, bei einer alten Frau untergekrochen zu sein?«
Clementine erstarrt. Nan richtet sich stocksteif auf. Sie weiß genau, was sie da angerichtet hat.
»Du hast ihm nicht gesagt, dass du deinen Job verloren has?« Es
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