Die Maetresse des Kaisers
Zeit, die Szenerie zu seinen Füßen in Ruhe zu betrachten. Was er sah, machte ihm Angst.
Vor ihm lag der große Hafen von Brindisi, in dem sonst Fischerboote und Handelsschiffe vor Anker gingen. Seit Jahrhunderten, schon seit der Römerzeit, war dieser Hafen im Abend- und Morgenland bekannt als Tor zum Orient. Die berühmte Via Appia führte von Rom nach Apulien und endete direkt im Hafen von Brindisi.
Karim beobachtete die Menschen, die sich dort drängelten und zum Hafen strebten. Mochte die Via Appia in Rom als Prachtstraße gelten, hier – in Brindisi – war sie nur eine kleine, schmale Gasse, die die Pilger und Möchtegernkreuzfahrer auf dem großen Hafenplatz in eine ungewisse Zukunft entließ.
Das Wasser hinter den Hafenmauern war brackig braun, an der Mole kein Anlegeplatz mehr frei. Alle kleineren Boote hatte man bereits aus dem Hafen gerudert, um Platz für die Galeeren zu schaffen. Doch immer neue Schiffe, viele unter venezianischer Flagge, steuerten den Hafen an, und längst war klar, dass Brindisi diesem Ansturm nicht gewachsen war.
Der Mann auf dem Dach zählte siebzig Galeeren im Hafen, und draußen auf dem Meer schaukelten doppelt so viele in einer sanften Dünung. Karim, der die Kunst der Mathematik von berühmten Männern gelernt hatte, rechnete schnell nach. Jedes dieser neuen großen Schiffe bot Platz für mindestens siebzig Ruderer, zweihundert Ritter mit ihren Pferden konnten an Bord gehen. Vorsichtshalber überschlug Karim die Zahlen mehrfach, aber alles in allem schätzte er über vierzigtausend Kreuzfahrer, die zum Teil bereits vor Brindisi lagerten oder sich im Anmarsch auf die Stadt befanden.
Dem Sarazenen stockte der Atem – vierzigtausend Menschen in einer Stadt, die nicht einmal einen Bruchteil davon aufnehmen konnte. Vierzigtausend Menschen in glühender Hitze, und die heißesten Wochen des Sommers standen ihnen noch bevor.
Karim kniff die Augen gegen die blendende Sonne zusammen und sah zur anderen Seite, nach Westen, zu den Wäldern und Sümpfen hinter der Stadt. Sein Blick schweifte über die makellos weißen Häuser von Brindisi, und er schauderte vor der Gefahr, die diese herrliche Kulisse bedrohte und den Menschen für lange Zeit Angstträume bereiten würde.
Nicht nur der Hafen war überfüllt, auch das Zeltlager vor den Toren im Westen wuchs unaufhörlich, und immer rückten neue Kreuzfahrer nach. Der Strom der Ritter aus dem Norden schien nicht enden zu wollen, der Lärm der Männer und ihrer Pferde legte sich vom Sonnenaufgang bis in die späte Nacht über die Stadt. Karim konnte es auch jetzt hören: das Stampfen der Hufe, das Hämmern der Waffenschmiede, Rufe und Schreie in unterschiedlichen Sprachen, das unablässige Gebell streunender Hunde.
Längst hatte Brindisi vor den Menschenmassen kapituliert. Die Stadttore blieben Tag und Nacht geöffnet. Wer sollte schon den Hafen bedrohen, wenn alle Heere der Christenheit vor den Mauern lagerten?
Und obwohl die Stadt direkt am Adriatischen Meer lag, war die Luft schwül und schwer, geschwängert von Feuchtigkeit und Gestank.
Karim hielt sich ein mit Lavendel getränktes Tuch an die Nase, als eine Woge von Fäulnis und Verwesung an ihm vorbeizog.
»Mein Freund blickt mit Sorge zum Horizont«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm.
Karim an-Nasir hätte den Klang dieser Stimme unter Tausenden in jeder Menschenmenge der Welt erkannt. Er drehte sich um und verbeugte sich.
»Ihr habt recht, mein Kaiser, das, was ich sehe, erfüllt mich mit Furcht«, erwiderte er und sah Friedrich II ., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Sizilien, direkt ins Gesicht. Friedrich kannte Karim seit seiner Jugend im Palast und in den Gassen von Palermo und war nicht der Mann, der den intensiven Augen des Sarazenen ausgewichen wäre. Er glaubte nicht an Dämonen und böse Blicke – er war ein Bewunderer der Wissenschaft und hielt sich für einen kühlen Denker.
»Und wovor fürchtet Ihr Euch, Karim?«
Friedrich schenkte Karim ein freundschaftliches Lächeln, das nur wenige Menschen zu sehen bekamen. Meist war die Miene des Kaisers ernst, häufig verschlossen, manchmal kalt.
Doch Karim war mehr als ein Freund – ein Vertrauter, ein Gefährte aus Jugendtagen, ein Mann mit einem messerscharfen Verstand. Friedrich schätzte und mochte ihn, auch, weil Karim genügend Mut hatte, ihm manchmal zu widersprechen. Außerdem bewunderte er Karims diplomatisches Geschick, durch das er schon viele Verhandlungen mit Fürsten und
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