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Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Titel: Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wsewolod Petrow
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herum wie Vögel.
    Ihr Gespräch bestand durchweg aus irgendwelchen hastigen Anspielungen und Aussparungen. Gleichzeitig hörte man allerdings auch die schlimmsten Kasernenflüche.
    Ich brauchte eine Weile, bis ich unterscheiden konnte, wer von ihnen Anja, wer Nadja, wer Tanja war. Alle waren rosig, allzeit zum Lachen bereit und schlagfertig. Blaß war nur Vera Muschnikowa, die schnellste, schmal und lebhaft. Jede Minute begann sie etwas Neues: Mal schnappte sie sich die kleine Lariska, das Mädchen der Fomins, mal stürmte sie zur Gitarre, mal fiel ihr ein, ihre Garderobe zu mustern, worauf sie sie herausnahm, ausbreitete und liegen ließ, mal zerstritt sie sich mit ihren Freundinnen, mal umarmte sie sie wieder. Auf den Stationen sprang sie als erste aus dem Waggon und verschwand irgendwohin; es kam vor, daß sie ganz zurückblieb und uns mit irgendeiner Dampflok einholte.
    Wir kamen nach L*** und blieben für eine lange Zeit auf einem Reservegleis stecken. Dort standen schon Militärzüge. Die Soldaten promenierten zu zweit, zu dritt vor den Zügen.
    Die Mädchen begannen aus dem Waggon zu verschwinden. Sogar Galopowa hatte Verehrer gefunden und war nunmehr in der Überzeugung gefestigt, nicht schlechter als die anderen zu sein. Bei unserem Waggon flanierten häufig Kavalleristen. Einer von ihnen war besonders hübsch: ein neunzehnjähriger Bursche in Pelzjacke, mit Reitersäbel und Sporen, mit einem rotwangigen und naiven Gesicht, wie man sie auf Bildern findet, die schöne Russen darstellen.
    »Schauen Sie«, sagte ich zu den Mädchen, »hier ist meiner Meinung nach ein hervorragender junger Mann.«
    Alle blickten auf ihn. Er wurde verlegen und trat zur Seite samt Reitersäbel und Sporen.
    Abends erschien er in unserem Waggon. Vera Muschnikowa ging voran und führte ihn wie in einem Triumphzug. Er setzte verwirrt einen Fuß vor den anderen und blickte verliebt auf Vera. Die Mädchen raunten. Sofort fingen die Lieder an. Anja Serowa, unsere beste Sängerin, öffnete den Mund und blökte wie ein Schaf. Er sang auch. Vera saß neben ihm, aufgeregt und stolz.
    Aber in unserem Waggon endete sowieso alles mit Liedern. Man ging zum Ofen, setzte sich auf das Brennholz, und der Waggon begann zu zittern. Nur die Ärztinnen sangen nicht – aus einem falsch verstandenen Aristokratismus heraus. Und ich, auf der Pritsche in der Ecke liegend, hatte Atemnot und Herzrasen.
V.  Die Anfälle kamen plötzlich, manchmal am Tag, häufiger jedoch in der Nacht, nach einem auf langweiligste Weise, in irgendwelchen matten Gesprächen verbrachten Abend. Nachts wachte ich auf: Ich bin nicht mehr ich, nicht mehr ein Offizier, nicht mehr Derundder – oder, besser gesagt, nur hier bin ich wirklich das reine Ich, ohne Namen, ohne Gesicht, ohne Erinnerungen: ein einziges entblößtes Gefühl der Entgegenstellung. Alles ist nicht ich, außer dem Punkt, der ich ist. Er ist zu einem Punkt zusammengedrückt. In den Punkt ist das ganze Grauen des Sterbens hineingezwängt: die Angst, diesen Punkt entgleiten zu lassen. Der Atem ist abgedrückt. Um mich herum schlafen alle. Es wäre leichter, in Einsamkeit zu sterben, ohne die schreckliche Gleichgültigkeit der Menschen um einen herum zu spüren. Aber das Grauen liegt nicht in der Gleichgültigkeit. Hier ist eine besondere Angst. Sie sind gleichgültig, weil sie gleichsam abwesend sind, vor dem Angesicht des Todes nicht zählen. Der Tod ist zu mir allein gewandt. Ich bin machtlos, und der Tod wird mich vernichten.
    Und noch eine Angst, für mich die wichtigste.
    Ich bin also tot, und der Geist verläßt meinen Leib. Wohin geht er? Da geht er aus dem Körper heraus, der ihn zur Welt bringt wie ein Kind. Wie ein Kind ist er schwach und schutzlos und entblößt: Der Körper bedeckt ihn nicht. Und was, wenn er zerfließt und die Form verliert, von den passiven Seelen der um mich herum schlafenden Menschen wie von Magneten angezogen? Diese Seelen sind halb geöffnet und bereit, ihn aufzunehmen.
    Der Geist wird sich auflösen und sich auf die Seelen aller Schlafenden aufteilen. In jedem von ihnen wird ein kleiner Teil von mir sein, ich selbst aber werde verschwinden.
    Nein, man muß allein mit sich selbst sterben und mit der letzten Willensanstrengung die Form des Geistes bewahren, bis er selbst erstarkt in seinem neuen Schicksal.
VI.  Nach den Anfällen konnte ich lange Zeit nicht einschlafen, und wenn ich mich schließlich erholt hatte, setzte ich mich auf das Brennholz beim Ofen. Nachts war da niemand.

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