Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
weiß, wo das ist, man muß schon nachschlagen, um dies in Erfahrung zu bringen. Es stellt sich heraus, daß Turdej eine kleine Eisenbahnstation im Herzen Rußlands ist, im Tula-Gebiet.
Diese ganz kleine und scheinbar unwesentliche Information kann uns viel erzählen. Die Geschichte der sowjetischen Manon Lescaut ist in einer der bedeutsamsten Brutstätten der großen russischen Literatur angesiedelt. Dieser Landstrich, das Tula- und Orjol-Gebiet, ist die Heimat der größten russischen Dichter des 19. Jahrhunderts: Wassili Schukowski, Lew Tolstoi, Ivan Turgenjew, Afanassij Fet, Nikolaj Leskow und viele andere stammen von hier, hatten hier ihre Güter, gingen in Tula oder Orjol zur Schule. Hier spielen klassische Werke der russischen Literatur: Turgenjews »Aufzeichnungen eines Jägers«, viele Szenen aus
Krieg und Frieden
von Tolstoi, viele Erzählungen von Leskow, der im Westen zu wenig geschätzt wird, aber zu den ganz Großen der russischen Literatur gehört. Im späteren lyrischen Werk von Afanassij Fet sieht und hört man diese Landschaft. Man lobte die hiesigen Bauern für ihre reine und reiche Sprache, von der anscheinend auch die Dichter profitierten. Wsewolod Petrow stellt seine Novelle allein mit der Wahl der Örtlichkeit in eine sehr lange Kette der Tradition. Wohl als letztes Glied, wie er wahrscheinlich gedacht haben wird. So einen großen Anspruch hat dieses schmale Buch!
Während Petrow an seiner
Manon
schrieb, mußte er bestimmt immer wieder an einen Roman denken, den er unmöglich nicht gelesen haben konnte und der wohl das
vorletzte Glied
dieser famosen Kette darstellt – an Andrej Nikolews (eigentlich A.N. Jegunow, 1895–1968)
Jenseits von Tula
(1931, Verlag der Schriftsteller in Leningrad; damals konnte so etwas noch gedruckt werden, das änderte sich bald). Der sehr schön geschriebene und jetzt in Rußland wiederentdeckte Roman spielt auf Tolstois Gut Jasnaja Poljana, nicht weit von Tula (das Spiel mit Thule ist selbstverständlich gewollt), und ist auf ähnlichen Prinzipien der Reduktion und individuellen Utopie aufgebaut. In eines der Exemplare seines Buchs hat der Autor eine Genrebezeichnung eingetragen
:
Eine sowjetische Pastorale.
Jegunow, Lyriker, Prosaist, Übersetzer aus dem Altgriechischen, gehörte in den 30er Jahren zum engeren Kreis von Michail Kusmin und wird in Petrows Erinnerungen an Kusmin sehr begeistert beschrieben: »Jegunow war wahrscheinlich der einzige Mensch und möglicherweise der einzige Lyriker, in dem ich gewisse Ähnlichkeiten mit Kusmin bemerkte. Diese nicht faßbaren Ähnlichkeiten zeigten sich nicht allein in Jegunows Gedichten oder in seiner glänzenden Prosa, die lyrisch und ironisch zugleich war, sondern in seiner Art zu denken, sogar in der Art, zu sprechen und sich zu benehmen«. In den 60er Jahren wurde er (wie auch Petrow selbst) zu einem der vielen Zentren der »Kulturübergabe« in Leningrad. Teilweise überschnitt sich der Kreis der jungen Leningrader Lyriker, Literaturwissenschaftler, Künstler, die Jegunow und Wsewolod Petrow besuchten, Manuskripte und Bücher zu lesen und Geschichten über die vergangenen Zeiten zu hören bekamen. Auch
Die Manon Lescaut von Turdej.
Also hatte sie schon lange, bevor sie gedruckt wurde, eine Wirkung auf die Leningrader Literaturszene.
7.
Wsewolod Petrow
stammte aus einer Petersburger Adelsfamilie, die fest in der russischen Geschichte verankert war (bekannt seit dem 15. Jahrhundert): Auf Ilja Repins berühmtem gigantischem Bild »Die feierliche Sitzung des Staatsrates am 7. Mai 1901« (1903) ist unter anderen sein Großvater zu sehen, Nikolaj Petrow (1836–1920), Ingenieur, General, ab 1900 Mitglied des Staatsrates des Russischen Reiches. Wsewolod Petrows Vater (1876–1964), der ebenfalls Nikolaj Petrow hieß, war ein berühmter Arzt, Gründer des Onkologischen Instituts in Petersburg (das seinen Namen trägt). Menschen, die Petrow kannten, erinnern sich, daß er all das nie vergaß und sich für die Zeit, in der er sein Leben leben mußte, ungewöhnlich aufführte: eisige Petersburger Höflichkeit, unfehlbare Manieren, Literatur- und Kunstgeschmack, der die neuen Menschen zunächst staunen ließ, dann faszinierte.
1932 wurde Petrow zum Mitarbeiter des Russischen Museums und damit zum Schüler Nikolaj Punins (1888–1953), eines der bedeutendsten russischen Kunstwissenschaftler überhaupt.
1949, nach der öffentlichen Kritik (das ist sehr milde ausgedrückt, es waren Schimpftiraden in allen sowjetischen
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