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Die Masken der Niedertracht

Die Masken der Niedertracht

Titel: Die Masken der Niedertracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-France Hirigoyen
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harmlose Spuren hinterlassen, die mit der Aufrechterhaltung eines praktisch normalen Soziallebens vereinbar sind. Die Opfer erscheinen psychisch nicht geschädigt, aber weniger spezifische Symptome dauern fort, die einem Versuch gleichen, die erlittene Aggression «wegzuzaubern». Das kann allgemeine Beklemmung sein, chronische Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfweh, verschiedenartige Schmerzen oder psychosomatische Störungen (Bulimie, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit). Wenn diese Menschen ihren Arzt konsultieren, verschreibt er ihnen ein symptombekämpfendes oder ein angstlösendes Medikament. Keinerlei Verbindung wird hergestellt zwischen der Gewalt, die das Opfer erlitten hat, und den Störungen, die es aufweist – weil es davon nicht spricht.
    Es kommt vor, daß die Opfer nachträglich klagen über unkontrollierbare Aggressivität. Sie ist eine Nachwirkung aus der Zeit, da es ihnen unmöglich war, sich zu verteidigen, und die sich auch als eine übertragene Gewalt deuten läßt.
    Andere Opfer werden eine ganze Reihe von Symptomen entwickeln, die der Definition des posttraumatischen Stresses nahekommen. Diese Definition entspricht etwa der alten europäischen Definition der traumatischen Neurose, wie sie ausgearbeitet wurde auf der Grundlage der Kriegsneurose während des Ersten Weltkriegs 38 und besonders von den Amerikanern bei den ehemaligen Vietnamkämpfern erforscht wurde. Später wurde diese Diagnostik angewandt, um die psychologischen Folgen von Naturkatastrophen oder von bewaffneten Überfällen oder Vergewaltigungen zu beschreiben. Erst in aller jüngster Zeit wurde sie auf eheliche Gewalt angewandt. 39 Es ist nicht üblich, von posttraumatischem Streß zu sprechen im Hinblick auf Opfer seelischer Perversion; denn man behält diese Bezeichnung den Personen vor, die mit einem Ereignis konfrontiert waren, bei dem ihre körperliche Sicherheit oder die eines anderen bedroht war. Dennoch betrachtet General Crocq, Spezialist für Viktimologie in Frankreich, die Bedrohten, die Gequälten und die Diffamierten als psychische Opfer. 40 Diese Opfer waren, wie Kriegsopfer, einem virtuellen «Belagerungszustand» ausgesetzt, der sie zwang, ständig in Verteidigungsstellung zu verharren.
    Die Aggressionen oder Demütigungen sind ins Gedächtnis eingeschrieben und leben wieder auf in intensiven und sich wiederholenden Bildern, Gedanken, Erschütterungen – sei es tagsüber mit dem plötzlichen Gefühl, eine völlig gleiche Situation stehe wieder bevor, sei es während der Nacht, wo sie Schlaflosigkeit und Alpträume hervorrufen. Die Opfer verspüren das Bedürfnis, über die traumatisierenden Ereignisse zu sprechen, aber die Beschwörungen der Vergangenheit führen jedesmal zu psychosomatischen Erscheinungen, die mit Angst gleichbedeutend sind. Sie weisen Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen auf. Man chmal verlieren sie den Appetit oder zeigen ganz im Gegenteil bulimische Verhaltensweisen, erhöhen ihren Alkohol- oder Tabakkonsum.
    Längerfristig führen die Angst, dem Aggressor die Stirn zu bieten, und die Erinnerung an die traumatisierende Situation zu einem Ausweichverhalten. Die Opfer entwickeln Strategien, um nicht an das «stressige» Ereignis denken zu müssen und alles zu meiden, was diese schmerzliche Erinnerung heraufbeschwören könnte. Diese Distanzierung als Versuch, einem Teil der Erinnerung zu entkommen, hat mitunter aber auch eine deutliche Verringerung des Interesses für früher wichtige Aktivitäten oder eine Einschränkung des Gefühlslebens im Gefolge. Gleichzeitig bestehen neurovegetative Symptome weiter, wie Schlafstörungen oder übermäßige Wachsamkeit.
    Dieses schmerzhafte Wiederaufleben schildern fast alle, die einmal «Opferlamm» waren, aber manchen gelingt es, sich davon zu lösen, indem sie sich äußeren Aufgaben, beruflichen oder karitativen, widmen.
    Die Erfahrung, die sie durchgemacht haben, läßt sich nicht vergessen, aber es ist möglich, ihr immer weniger Raum zu geben. Wie sollten die Opfer auch sagen, daß sie – zwanzig oder dreißig Jahre später – immer noch ein Gefühl der Verzweiflung überkommt, wenn sich ihnen Bilder ihres Peinigers aufdrängen? Selbst wenn sie wieder Erfüllung im Leben gefunden haben, können diese Erfahrungen ihnen jederzeit schlagartig Leid verursachen. Jahre später wird alles, was unmittelbar oder von Ferne die Erinnerung wachruft an das Erlittene, sie sofort die Flucht ergreifen lassen, denn das Trauma hat in ihnen eine Fähigkeit

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