Die Maya-Midgard-Mission
Dezember. Wir landen in wenigen Minuten und hoffen, sie hatten einen erholsamen Flug. In Kingston sind es achtundzwanzig Grad Celsius, es weht ein leichter Nordostwind und die relative Luftfeuchtigkeit beträgt 85 Prozent. Sie haben Verbindungen nach Martinique, Barbados und Trinidad. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt, fröhliche Weihnachten oder einen angenehmen Weltuntergang – je nach Stimmungslage. Machen Sie es gut!"
Daria De lfonte versuchte sich zu entspannen. Was für eine Durchsage. Die Panikattacken hatte sie zwar seit Jahren im Griff, aber ihre Flugangst sorgte immer noch für feuchte Hände und eine trockene Kehle. Zum Glück war sie ihren Spiralinseln schon tausend Kilometer näher gekommen. Bis zum Ziel fehlten noch ein zweistündiger Anschlussflug und ein Bootstransfer. Sie fürchtete weniger die Seekrankheit. Die Februarwogen waren noch vom Winter besänftigt und die wilden Herbststürme längst vorüber. Der Landeanflug machte ihr zu schaffen: Der plötzliche Ruck des Fahrwerks, die arhythmischen Erschütterungen dieses Monstrums aus Stahlblech und Kerosin, die zitternden Tragflächen und der bebende Rumpf brachten stets auch ihre Nerven zum Vibrieren. Obwohl der Hurrikan und der untypische Dauerregen der letzten Wochen nicht gerade von einem sehr verlässlichen Klima zeugten, würde es schon nicht so schlimm werden.
» Indiana Jane trotzt allen Kapriolen!«, machte ihr die innere Stimme, keck wie immer, Mut.
Bis zu ihrer Abreise aus Yukatan waren drei Tage vergangen. Drei Tage, die mehrere positive Überraschungen, aber auch eine Enttä uschung für sie bereit gehalten hatten. Die Kammer hinter dem Türeingang, den der Tote bewachte, war leer. Ein Schrein im Inneren verwaist. Das öffnete den Spekulationen über die Bedeutung des Fundes und den Kontroversen im Team Tür und Tor. Wenn die Kammer geplündert worden war, weshalb bewachte der Tote sie dann unversehrt? Wenn der Schrein niemals wertvolle oder heilige Dinge bewahrt hatte, warum der Wächter? Vielleicht waren die Erbauer nachhaltig beim Errichten des Hügelgrabes gestört worden und hatten ihr Werk nicht vollenden können. Vielleicht war die Kammer nur eine Vorkammer, verbarg sich das wahre Geheimnis unentdeckt im Hintergrund.
Daria glaubte, dass sie alle zusammen den echten Sinngehalt der Gra bstelle schlicht nicht begriffen hatten. Noch nicht. Ihr schien es, als habe man erst ein Mosaiksteinchen von vielen gefunden. Das Gesamtbild würde erst sichtbar werden, wenn das Mosaik vollständiger war. Und dafür musste sie der Spur der Spiralen folgen.
Im Team gab es erste Stimmen, die ihren Fund als Misserfolg wert eten. Dr. Roussiof und Tony Larkins wollten einfach die Wichtigkeit der Spiralen nicht wahrhaben. Aber zumindest über die Herkunft der Mumie war man sich einig. Sämtliche gefundenen Indizien sprachen für eine skandinavische Abstammung. Der Nordmann trug für einen Wikinger typische Kleidung. Die Labortests liefen noch, aber das Ergebnis war schon jetzt ersichtlich. Im ledernen Gürtel der Beinkleider hatte man zwei fingergroße Goldbarren gefunden. Jeder gute Wikingerkapitän stattete seine Seeleute mit solchem Gold aus, damit sie im Falle des Falles ihre Reise nach Walhalla standesgemäß antreten konnten. Das war guter alter Seemannsbrauch. Außerdem trug der Tote einen Beutel aus Elchleder mit Resten von Huflattich bei sich; ein europäisches Korbblütergewächs, das die Wikinger als Hustenmedizin gebrauchten. Rätselhaft blieb die Todesursache ihres Wächters; die Leiche wies zwar zahllose Narben aber keine Verletzungen, die zum Tode geführt haben könnten, auf. Natürlich hatte die Schusswunde alle Spekulationen über eine gefälschte Fundstelle kräftig angeheizt. Roussiouf wollte abreisen. Aber 99 Prozent der Spuren sprachen für die Echtheit der Mumie. Das Unerklärliche musste also zunächst unerklärlich bleiben.
Das vergoldete Bronze-Schwert des Wächters war eindeutig keine Waffe zum Kämpfen, und die Tätowierung war ebenso ungewöhnlich für einen Wikinger aus dem 9. oder 10. Jahrhundert wie das in feine Seide eingeschlagene Buch, das er über dem Herzen getragen hatte. Die Wikinger waren zwar Seeleute und Händler; dennoch führten sie in der Regel weder Logbücher noch andere Bücher und benutzten ihre Runenschrift erst ab dem 10. Jahrhundert, zumeist für kultische Zwecke. Dieser Tote, den es Jahrhunderte vor allen anderen Europäern in das Mayareich nach Mittelamerika verschlagen hatte, musste
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