Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
trickse sie aus?
Ich sehne mich nach dem Berg, auf dem ich aufgewachsen bin. Am liebsten würde ich ihn hierher teleportieren und neben die Alhambra stellen. Ach, wenn ich nur wüsste, wie es meiner zusammengeflickten Familie geht. Es wäre so schön, wenn die ganze Bande plötzlich in Granada auftauchen würde! Ich vermisse sie so sehr …
Wir würden uns alle um einen Tisch versammeln, und Madeleine würde uns ein leckeres Essen kochen. Madeleine und Méliès würden sich übers Basteln und die menschliche Psyche unterhalten, Miss Acacia und Madeleine würden sich wegen der Liebe in die Haare geraten, bis sie ihnen zu Berge stünden. Doch nachdem sie mehrere Runden gestritten, geneckt und gestichelt hätten, ohne eine Siegerin ermitteln zu können, würden sie Freundschaft fürs Leben schließen. Und Anna, Luna und Arthur würden das Gespräch mit tragischen und verrückten Anekdoten würzen.
»Was guckst du denn so traurig aus der Wäsche? Komm, Kleiner, ich stelle dir meine Señoritas vor!«, ruft Méliès, kaum dass er durch die Tür ist.
Er hat eine große, unablässig kichernde Blondine im Schlepptau und eine füllige Brünette, die an ihrer Zigarettenspitze nuckelt, als wäre es eine Sauerstoffflasche.
»Meine Damen, darf ich Ihnen meinen Weggefährten vorstellen, meinen treusten Kameraden, den Freund, der mich von meiner Liebeskummerdepression kuriert hat.«
Ich bin gerührt. Die Señoritas applaudieren und klimpern mit den Wimpern.
»Verzeih mir«, sagt Méliès zu mir, »aber ich muss mich jetzt in meine Gemächer zurückziehen und dort hundert Jahre lang … schlafen.«
»Und was wird aus der Reise zum Mond?«
»Gut Ding will Weile haben! Manchmal muss man sich einfach ein bisschen ausruhen, das gehört zum schöpferischen Prozess!«
Eigentlich wollte ich ihm von Joe erzählen und ihn bitten, einen Blick auf meine Uhr zu werfen. Außerdem brauche ich noch mehr Ratschläge für eine Liebesbeziehung mit einem Feuermädchen, aber der Moment ist schlecht gewählt. Seine Hühner gackern, eingehüllt in dichten Qualm. Ich werde ihn sein frivoles Nickerchen halten lassen.
»Vielleicht kommt Miss Acacia mich heute Nacht besuchen, wenn du nichts dagegen hast …«
»Im Gegenteil, fühl dich wie zu Hause.«
Dann gehe ich zur Geisterbahn hinüber, um meine restlichen Sachen abzuholen. Bei dem Gedanken, dass ich die Steinbaracke zum letzten Mal betrete, wiegt meine Uhr eine Tonne. In der Geisterbahn spuken so viele schöne Erinnerungen an Miss Acacia herum, und mittlerweile habe ich sogar Gefallen daran gefunden, dass die Leute über mich lachen.
Ein großes Plakat mit Joes Konterfei klebt über meinem. Mein ehemaliges Zimmer ist abgeschlossen. Die Sachen, die nicht mehr in meinen Rucksack gepasst haben, sind auf mein Rollbrett gestapelt, das im Flur steht. Ich bin zu einem verdammten Gespenst geworden. Noch immer mache ich niemandem Angst, aber es lacht auch keiner mehr über mich. Man ignoriert mich einfach. Selbst Brigitte Heims geschäftstüchtige Augen sehen durch mich hindurch. Es ist, als hätte ich aufgehört zu existieren.
Vor der Geisterbahn stehen die Besucher Schlange, und ein Junge ruft mir zu: »Entschuldigen Sie, Señor, sind Sie nicht der Uhrenmann?«
»Wer? Ich?«
»Ja, Sie! Ich erkenne Ihr Ticken! Heißt das, Sie treten wieder in der Geisterbahn auf?«
»Nein, ich hole nur meine Sachen.«
»Schade! Sie müssen unbedingt zurückkommen, Señor! Wir vermissen Sie …«
Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Unter meinen Zahnrädern beginnt es zu vibrieren.
»Wissen Sie, in der Geisterbahn habe ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Aber jetzt, wo der große Joe da ist, will meine Freundin nicht mehr mitfahren. Sie hat Angst. Lassen Sie uns nicht mit dem großen Joe allein, Señor!«
»Wir hatten so viel Spaß mit Ihnen!«, ruft ein anderer Junge.
»Kommen Sie zurück!«, stimmt ein Dritter ein.
Als ich der kleinen Schar meiner Bewunderer zuwinke und ihnen für die netten Worte danke, schnellt mein Kuckuck heraus. Die drei Jungen applaudieren, und eine Handvoll Erwachsener schließt sich ihnen zaghaft an.
Ich steige auf mein Brett und rolle die Hauptstraße entlang. Im Hintergrund spielt die Alhambra Kulisse für meinen großen Abgang. Ein Teil der Menschenmenge jubelt mir zu und ruft: »Komm zurück! Komm zurück!«
»Hau bloß ab!«, dröhnt plötzlich eine tiefe Stimme.
Ich drehe mich um. Joe hat ein siegessicheres Grinsen aufgesetzt. Wenn Tyrannosaurier lächeln
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