Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
offen. Hast du dich nie gefragt, warum ich es ausgerechnet auf dich abgesehen hatte?«
»Anfangs schon. Ich habe sogar versucht, mit dir zu reden, aber du warst hart wie ein Eisblock. Schließlich wohnte ich bei der Hexe und stammte aus dem Bauch einer Hure. Außerdem war ich der Neue, der Kleinste der Klasse, und mein Herz machte merkwürdige Geräusche. Es war leicht, mich zu verspotten und zu verprügeln. Ich war das perfekte Opfer. Bis zu dem Tag, an dem du zu weit gegangen bist.«
»Stimmt, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Ich hatte es vor allem auf dich abgesehen, weil du an deinem ersten Schultag so dumm warst, mich nach Miss Acacia zu fragen. Das war dein Todesurteil. Sie war und ist meine große Liebe. Bevor du aufgekreuzt bist, hatte ich in der Schule ein Jahr lang vergeblich versucht, Miss Acacia näherzukommen. Bis zu jenem kalten Frühlingstag, als sie auf dem zugefrorenen Fluss Schlittschuh lief und dabei wie immer leise vor sich hin sang. Plötzlich brach das Eis unter ihr. Dank meiner langen Arme und Beine gelang es mir, sie aus dem kalten Wasser zu ziehen, aber sie wäre fast gestorben. Ich sehe sie immer noch zitternd in meinen Armen liegen. Seit jenem Tag waren wir unzertrennlich, bis zu den Sommerferien. Ich schwebte im siebten Himmel. Doch am ersten Schultag nach den Ferien erfuhr ich, dass sie in Granada geblieben war, nachdem ich unserem Wiedersehen den ganzen Sommer über entgegengefiebert hatte. Niemand wusste, ob sie je zurückkommen würde.«
Joe über Liebe sprechen zu hören, ist grotesk.
»Und ausgerechnet an diesem Tag kreuzt du auf und fragst nach Miss Acacia, weil du ihr eine Brille schenken willst! Mir ist ohnehin schon elend zumute, weil sie fort ist, und plötzlich steht da dieser Gartenzwerg mit Schulranzen und entfacht meine Eifersucht, indem er mir unter die Nase reibt, was wir grausamerweise noch heute gemein haben: seine leidenschaftliche Liebe für Miss Acacia. Ich erinnere mich an das Geräusch, das dein Herz machte, als du von ihr sprachst. Ich habe dich auf Anhieb gehasst. Das Ticken deiner Uhr maß die Zeit, die ohne Miss Acacia verging. Deine Uhr war mein Folterinstrument, sie war bis obenhin gefüllt mit deinen Träumen von meiner Miss Acacia.«
»Aber das ist keine Entschuldigung dafür, dass du mich täglich verspottet und geschlagen hast. Von deiner Geschichte mit Miss Acacia wusste ich nichts, und für das Ticken meiner Uhr konnte ich nichts.«
»Ich weiß. Aber all der Spott und all die Schläge machen noch lange nicht DAS HIER wett!«
Mit einem Ruck zieht er seine Klappe hoch. Das Auge sieht aus wie ein blutunterlaufener Eiweißkloß, der von blaugrauen Krampfadern durchzogen ist.
»Aber wie gesagt«, fährt Joe fort, »durch dieses blinde Auge, das ich dir verdanke, habe ich viel gelernt, über mich und das Leben. Du hast recht: Wir sind quitt.«
Es fällt ihm sichtlich schwer, diesen Satz auszusprechen, und mir fällt es wahnsinnig schwer, ihn zu hören. Deshalb antworte ich: »Nein, wir waren quitt. Du bist hier aufgekreuzt, also hast du es wieder auf mich abgesehen.«
»Wie gesagt, ich bin nicht gekommen, um mich an dir zu rächen, sondern um Miss Acacia zurück nach Edinburgh zu holen. Seit Jahren male ich mir diesen Moment aus, selbst wenn ich andere Mädchen küsse. Und das verdammte Ticken deiner Uhr hallt mir dabei ständig in den Ohren. Wenn Miss Acacia nichts mehr von mir wissen will, verschwinde ich wieder. Andernfalls musst du gehen. Mit dir habe ich keine Rechnung offen, aber in Miss Acacia bin ich immer noch verliebt.«
»Aber ich habe noch eine Rechnung mit dir offen.«
»Du wirst dich damit abfinden müssen: Ich bin wie du, verrückt nach Miss Acacia. Wir werden uns ein faires Duell liefern, mit ihr als Kampfrichterin. Möge der Bessere gewinnen, little Jack . Und jetzt …«
Er setzt das höhnische Grinsen auf, das ich nur zu gut kenne, und streckt mir seine dürre Hand entgegen. Ich gebe ihm meinen Zimmerschlüssel und habe dabei das ungute Gefühl, ihm den Schlüssel zu Miss Acacias Herzen auszuhändigen. Mir dämmert, dass die magische Zeit mit meiner tanzenden Flamme vorbei ist.
Träume von einem Häuschen am Meer, von Spaziergängen am Strand, bei Nacht und bei Tag. Ihre Haut, ihr Lächeln, ihr Witz, ihr Funken sprühender Charakter, all die Gründe, derentwegen ich mich mit ihr multiplizieren wollte. Mein Traum, den ich Nacht für Nacht so mit der Wirklichkeit verschweißt hatte, dass er wirklich zu werden schien –
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