Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
träumte ich davon, dich wiederzufinden. Als ich erfuhr, dass du in der Stadt zur Schule gehst, bekniete ich Madeleine, mich auch anzumelden, aber als ich sie endlich so weit hatte, warst du nicht mehr da. Nur Joe. Joe und ein Schulhof voller Schaulustiger. Am ersten Tag beging ich den Fehler herumzufragen, ob nicht jemand eine wunderschöne kleine Sängerin kennt, die ständig überall gegenstößt. Das war mein Todesurteil. Joe ertrug nicht, dass du fort warst, und ließ seine Enttäuschung an mir aus. Er spürte meine Leidenschaft für dich, und sie machte ihn rasend eifersüchtig. Jeden Morgen, wenn ich durchs Schultor ging, schnürte mir nackte Angst den Magen zusammen, und dieser Knoten löste sich den ganzen Tag über nicht mehr. Drei lange Jahre ertrug ich seine Schikanen. Bis zu dem Tag, als er mir das Hemd aufriss und ich vor der ganzen Schule mit nacktem Oberkörper dastand. Er öffnete mein Zifferblatt, um mich noch mehr zu demütigen, aber zum ersten Mal ließ ich es mir nicht gefallen. Wir prügelten uns, und die Sache endete böse, sehr böse, wie du weißt. Ich musste Edinburgh mitten in der Nacht verlassen und durchquerte halb Europa auf der Suche nach dir. Es war nicht einfach. Ich habe Madeleine, Arthur, Anna und Luna schrecklich vermisst, und ich vermisse sie noch heute … Aber ich wollte dich unbedingt wiedersehen, das war mein größter Traum. Ich weiß, dass Joe gekommen ist, um ihn zu zerstören. Er wird alles tun, um dich mir wegzunehmen. Er hat schon damit angefangen, merkst du das denn nicht?«
Sie wendet sich traurig von mir ab.
»Glaubst du wirklich, ich würde zu ihm zurückkehren?«
»Ich zweifle nicht an deinen Gefühlen, aber ich habe Angst, er könnte das Vertrauen zerstören, das zwischen uns gewachsen ist. Sobald ich euch den Rücken kehre, redet er schlecht über mich, und du hast ihm sofort geglaubt, ohne mich anzuhören. Er hat meinen Platz in der Geisterbahn eingenommen. Er schläft schon heute Nacht in unserem Bett, dem einzigen Ort, an dem wir vor der Außenwelt sicher waren. Er versucht, mir alles wegzunehmen, und es gelingt ihm offenbar auch.«
»Aber du –«
»Lass mich ausreden. In der Schule sah er mir eines Tages tief in die Augen und drohte damit, mir mein Uhrenherz herauszureißen und es mir auf dem Schädel zu zertrümmern, damit ich nie wieder lieben könne. Er weiß, wohin er zielen muss, damit es wehtut.«
»Du anscheinend auch.«
»Warum hat er dir wohl nur seine Version der Geschichte erzählt? Was glaubst du?«
Sie zuckt mit den Schultern wie ein trauriges Vögelchen.
»Joe weiß, wie sehr du Unehrlichkeit verabscheust. Er weiß, wie er vorgehen muss: Er schürt deine Ängste und Zweifel. Er zündet eine deiner Haarsträhnen an, und sie führt wie eine Lunte zu deinem hochexplosiven Herz. Er kennt dich und weiß genau, wie verletzlich du bist, auch wenn du aussiehst wie eine Bombe. Joe versucht, uns auseinanderzureißen, um dich zurückzugewinnen! Wenn du es wenigstens merken würdest, könntest du mir helfen, ihn aufzuhalten!«
Sie dreht sich wieder zu mir um und öffnet langsam die Augen. Zwei große Tränen rinnen ihr über das hübsche Gesicht. Schwarze Tusche tropft aus den zerknitterten Wimpern. Sie verfügt über die merkwürdige Gabe, im Glück und im Unglück unwiderstehlich zu sein.
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Ich küsse ihren tränennassen Mund. Er schmeckt nach überreifen Früchten. Dann verlässt mich Miss Acacia. Ich sehe zu, wie sie von den Schatten der Nacht verschluckt wird.
Sie verliert sich lodernd in der Ferne. Mit jeder knirschenden Umdrehung meiner Zahnräder bricht ein Stück Traum aus meinem Herzen. Ach, Madeleine, der Schmerz wird immer stärker. Ich habe Angst, Miss Acacia nie wiederzusehen.
11
uf dem Weg zu Méliès’ Werkstatt pocht mir das Ticken meiner Uhr in den Knochen. Die Alkoven der Alhambra werfen das Geräusch als düsteres Echo zurück.
Als ich ankomme, ist niemand da. Ich setze mich zwischen Méliès’ Kunstwerke aus Pappmaché und warte. Umgeben von seinen Erfindungen fühle ich mich verloren. Ich werde eine von ihnen. Ich bin ein menschlicher Trick, der ein Mensch ohne Tricks werden will. In meinem Alter wäre es der größte Trick, als Mann durchzugehen, als echter Mann. Kann ich Miss Acacia beweisen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin, dass ich für sie brenne, dass ich echt bin, dass meine Liebe echt ist? Was kann ich tun, damit sie mir glaubt und nicht ständig denkt, ich
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