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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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mir Mut zu machen.
    Er leiht mir seinen guten Anzug und seinen Lieblingshut als Glücksbringer. Ich flehe ihn an, mich zu begleiten, und er schließt sich mir ebenso selbstverständlich an wie bei unserer ersten Begegnung in Paris.
    Auf dem Weg nach Marbella bin ich hin- und hergerissen zwischen Angst, Zweifeln und wilder Entschlossenheit. Warum ist es nur so schwer, dafür zu sorgen, dass der Mensch, den man über alles liebt, bei einem bleibt? Miss Acacia ist nicht knausrig, sie gibt mir alles. Ich gebe auch, aber trotzdem kommt bei ihr weniger an. Vielleicht stelle ich mich dumm an. Aber ich lasse den magischsten Zug meines Lebens, den Zug, dessen Lokomotive brennende Rosen spuckt, nicht kampflos entgleisen. Ich werde Miss Acacia heute Abend erklären, dass ich bereit bin, mich für sie zu ändern und alles zu tun, was sie will. Hauptsache, sie liebt mich. Dann wird alles wieder gut.
    Die Bühne steht direkt am Meer und ist winzig. Davor scheint sich die ganze Welt versammelt zu haben. Weit vorne mit dabei: Joe. Er ist ein Totempfahl mit Zauberkräften, der meinen Körper zum Zittern bringt.
    Meine kleine Sängerin betritt die Bühne und stampft mit den Füßen auf, heftiger als sonst, viel heftiger. Sie schreit, heult, jault. Heute ist sie von einem Wolf besessen. Ein erdiger Blues durchkreuzt ihren Flamenco. Spanischer Pfeffer tanzt auf ihrer Zunge. In ihrem leuchtend roten Kleid sieht sie aus wie eine singende Dynamitstange. Sie steht unter Starkstrom, sie muss ihre Dämonen austreiben.
    Plötzlich durchbricht ihr linkes Bein die Bretter, das Holz splittert und knackt, als brenne es lichterloh. Ich will zu ihr, aber die Zuschauer lassen mich nicht durch, sie schreien nur kurz auf und sehen dann seelenruhig zu, wie Miss Acacia sich wie ein lebender Nagel immer tiefer in die Bretter bohrt. Ich begegne ihrem Blick, aber sie erkennt mich nicht – vielleicht wegen Méliès’ Hut. Joe eilt zu ihr, mit seinen langen Beinen steigt er mühelos über die Zuschauer hinweg. Ich kämpfe gegen eine Menschenwand an. Er gewinnt an Vorsprung. In wenigen Sekunden wird er sie erreicht haben. Ich darf sie seinen Armen nicht kampflos überlassen. Miss Acacia muss sich ernsthaft verletzt haben, denn sie verzieht das Gesicht vor Schmerz, und sie ist alles andere als wehleidig. Ich wäre jetzt gerne ein Arzt oder besser noch ein Wunderheiler, dann könnte ich sie im Handumdrehen kurieren. Ich erklimme die Menschenmenge, springe von Schädel zu Schädel, wie in der Geisterbahn. Ich muss ihn einholen, ich muss zu ihr. Miss Acacia hat sich verletzt, sie leidet, ich muss ihr den Schmerz nehmen. Jetzt drängen die Zuschauer zur Bühne, um zu sehen, was da vorne los ist. Ich bin mit Joe auf einer Höhe. Ich werde die splitternden Fangzähne der Bretter daran hindern, Miss Acacia zu verschlingen! Diesmal werde ich sie retten! Ich muss sie retten, um von ihr gerettet zu werden.
    Zu spät! Aus den Untiefen meines Uhrwerks schießt mir ein stechender Schmerz in die Lunge. Joe hat gewonnen. Wie in Zeitlupe muss ich mitansehen, wie seine langen Finger nach Miss Acacia greifen. Er wickelt seine langen Arme um ihren zarten Vogelkörper. Meine Uhr kreischt wie tausend Kreidestücke auf tausend Schiefertafeln. Er hält Miss Acacia in den Armen, als wäre sie seine Braut. Ich finde sie wunderschön, selbst in seinen Armen. Dann verschwinden die beiden in ihrer Garderobe. Ich versuche, nicht loszuschreien, ich zittere am ganzen Körper. Hilf mir, Madeleine! Schick mir ein Herz aus Stahl.
    Ich muss die Tür aufbrechen! Ich senke den Kopf und renne dagegen. Die Tür bleibt zu. Ich rappele mich wieder auf. Mir schwirrt der Kopf, auf meiner Stirn schießt in Sekundenschnelle eine beeindruckende Beule in die Höhe. Dennoch versuche ich es wieder und wieder, bis die Tür nachgibt. Miss Acacia liegt noch immer in Joes Armen. Ihr rotes Kleid ist ein Stück hochgerutscht, es passt farblich perfekt zu den Blutstropfen, die ihre Waden hinabrinnen. Es sieht aus, als hätte Joe sie gebissen und schickte sich an, sie bei lebendigem Leib zu verschlingen.
    »Was ist mit deinem Kopf passiert?«, fragt Miss Acacia und streckt die Finger nach meiner Beule aus.
    Ich weiche ihrer Hand aus.
    Meinem Herzen ist sofort aufgefallen, wie zärtlich ihre Geste ist, aber es traut dem Braten nicht. Es ist blind vor Wut. Miss Acacias Blick verdüstert sich. Joe drückt ihren schmalen Vogelkörper an seine kräftige Brust, als müsse er sie vor mir beschützen. Ach, Madeleine, die
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