Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
all das ist in Gefahr. Joe ist gekommen, um sie mir wegzunehmen. Das altbekannte Gefühl lähmender Ohnmacht kriecht mir in die Glieder. Die stolzen Lanzen meiner Uhr krümmen sich zusammen, das Gehäuse ist morsch. Noch bin ich nicht besiegt, aber ich habe Angst, schreckliche Angst.
Statt Miss Acacias Bauch beim Wachsen zuzusehen wie ein glücklicher Gärtner, muss ich die Rüstung aus dem Schrank holen und gegen Joe antreten.
Ich verbringe den letzten Nachmittag in meinem alten Zimmer. Am frühen Abend steckt Miss Acacia den Kopf zur Tür herein. Ich mühe mich gerade vergeblich damit ab, meinen überquellenden Rucksack zu schließen. Meine kleine Sängerin, sonst so heiter wie ein Hochdruckgebiet, ist heute offenbar ein wütendes Tief, denn aus ihren Augen schießen zornige Blitze. Die nächsten Minuten versprechen stürmisch zu werden.
»Achtung, Gebirgswetter!«, sage ich, um die Situation zu entschärfen.
»Du stichst also anderen Leuten die Augen aus! In wen habe ich mich da verliebt?«
»Ich …«
»Wie kannst du nur so grausam sein? Du-hast-ihm-ein-Au-ge-aus-ge-sto-chen!«
Ein Flamencotornado mit Sprengstoffkastagnetten und hohen Absätzen, die sich mir in die Nervenbahnen bohren. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Ich suche verzweifelt nach einer Antwort, aber sie lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen.
»Wer bist du? Wie konntest du mir so was Wichtiges verheimlichen? Ist da noch mehr, was ich wissen sollte?«
Ihre Augen sind vor Wut weit aufgerissen, aber am schlimmsten ist die abgrundtiefe Traurigkeit, die an ihren Rändern lauert.
»Wie konntest du mir so was Schreckliches verheimlichen?«, sagt sie immer wieder.
Dieser Mistkerl von Joe hat die alte Geschichte ausgegraben und damit eine Lunte angezündet. Ich will meine kleine Sängerin nicht anlügen, aber ich bin auch nicht scharf drauf, ihr alles zu beichten. Ist jemand, der sich in Halbwahrheiten flüchtet, ein Schwindler?
»Ja, ich habe ihm ein Auge ausgestochen. Und es tut mir leid, dass es dazu gekommen ist. Aber Joe hat dir nicht alles erzählt: Oder hat er erwähnt, dass er mich jahrelang gequält hat, und vor allem, warum? Joe hat mir die schlimmste Zeit meines Lebens beschert. In der Schule war ich sein Prügelknabe. Na klar! Ein Neuer, noch dazu etwas klein geraten, dessen Herz merkwürdige Geräusche macht … Joe hat mich tagtäglich gedemütigt und mich immer wieder spüren lassen, dass ich ein Freak bin. Ich war sein Lieblingsspielzeug. Jeden Tag hat er sich was Neues ausgedacht. Mal zertrümmerte er mir ein Ei auf dem Kopf, mal boxte er mir auf die Uhr, und immer vor den Augen der ganzen Schule.«
»Ich weiß, er kann manchmal ein ziemlicher Angeber sein. Er ist süchtig nach Aufmerksamkeit, aber im Grunde ist er harmlos. Er hat bestimmt nichts getan, weswegen man sich wie ein Schwerverbrecher aufführen muss!«
»Ich habe ihm nicht das Auge ausgestochen, weil er ein Angeber war, sondern aus einem viel schwerwiegenderen Grund.«
Die Erinnerung überrollt mich in heftigen Wogen, die Worte kommen kaum nach. Ich bin aufgebracht, traurig und schäme mich, aber ich versuche, ruhig zu bleiben.
»Alles fing an meinem zehnten Geburtstag an. Ich war zum ersten Mal in der Stadt, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern. Ich hörte dich singen, und dann sah ich dich. Meine Uhrzeiger wiesen in deine Richtung, als würden sie von einem Magneten angezogen. Mein Kuckuck begann lauthals zu rufen. Madeleine packte meine Hand und versuchte mich fortzuziehen, aber ich riss mich los und baute mich vor dir auf. Ich antwortete auf dein Lied, wie in einem Musical. Es war unbeschreiblich schön. Du hast eine Strophe gesungen, ich die nächste, wir unterhielten uns in einer Sprache, die mir völlig fremd war, aber wir verstanden uns. Du hast getanzt, und ich habe mit dir getanzt, dabei konnte ich nicht mal tanzen! Alles schien möglich!«
»Ich erinnere mich, ich habe mich von Anfang an erinnert. Als du plötzlich in meiner Garderobe aufgetaucht bist, wusste ich gleich, wer du bist. Der merkwürdige kleine Junge, dem ich als Zehnjährige begegnet war und der irgendwo tief in meinem Gedächtnis schlummerte …«
Ihre Stimme ist jetzt voller Melancholie.
»Du erinnerst dich also … Weißt du auch noch, dass wir in einer Seifenblase schwebten? Madeleine musste mich mit aller Kraft herauszerren!«
»Und dann bin ich gestolpert, auf meine Brille gefallen und habe sie mir völlig krumm auf die Nase gesetzt.«
»Genau! Seit jenem Tag
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