Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
zurück?«
»Ich glaube nicht, dass er jemals zurückkommt. Er ist mittlerweile zweifacher Vater und arbeitet mit Feuereifer an seiner Idee von den bewegten Bildern.«
»Er ist Vater?«
»Anfangs schrieb er jede Woche, uns beiden. Jetzt höre ich manchmal monatelang nichts von ihm. Vielleicht hat er Angst, ich könnte ihm von deinem … Tod berichten.«
»Monatelang?!?«
»Heute ist der vierte August 1892. Du hast fast drei Jahre im Koma gelegen. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber sieh nur in den Spiegel. An der Länge deiner Haare kannst du ablesen, wie viel Zeit verstrichen ist.«
»Ich will mich nicht sehen. Noch nicht …«
»In den ersten drei Monaten hast du die Augen jeden Tag höchstens ein paar Sekunden geöffnet. Eines Tages bist du hochgeschreckt, hast Miss Acacias Namen gemurmelt und bist dann wieder weggedämmert.«
Als ich Miss Acacias Namen höre, werde ich aufs Neue von Gefühlen für sie überwältigt.
»Seit Anfang des Jahres bist du für immer längere Zeiten zu dir gekommen. Es passiert durchaus, dass Leute aus einem jahrelangen Koma aufwachen, schließlich ist es nichts anderes als ein langer Schlaf. Ich bin so froh, dass du zurück bist! Méliès wäre außer sich vor Glück! Allerdings musst du mit ein paar unangenehmen Folgen rechnen …«
»Was denn für Folgen?«
»Von einer so langen Reise kehrt man nicht unversehrt zurück. Es ist ein Wunder, dass du dich überhaupt daran erinnerst, wer du bist.«
Plötzlich sehe ich mein Spiegelbild in der Glastür. Ich bin ein lebender Toter. Drei Jahre! Was für ein Schock. So viel Zeit. Drei Jahre! Was hast du in diesen drei Jahren gemacht, Miss Acacia?
»Lebe ich wirklich? Bin ich tot? Oder ist das hier ein Albtraum?«
»Du lebst. Du bist nicht mehr derselbe, aber du lebst.«
Nachdem ich die lästigen Schläuche losgeworden bin, nehme ich mein erstes richtiges Essen seit Jahren zu mir. Ich muss zu Kräften kommen und meine Gefühle sortieren.
Miss Acacia beherrscht meine Gedanken. So stark kann ich mich also nicht verändert haben. Ich bin immer noch genauso besessen von ihr wie an meinem zehnten Geburtstag. Ich muss sie finden. Ich habe keine Gewissheiten mehr, außer der einen: Ich liebe Miss Acacia noch immer. Bei dem Gedanken, dass wir nicht mehr zusammen sind, steigt mir erneut gallige Glut ins Hirn. Das Leben ist sinnlos, wenn ich nicht alles daransetze, sie wiederzufinden.
Ich habe keine Wahl, ich muss zurück ins Extraordinarium.
»Du willst doch wohl nicht im Schlafanzug nach draußen!«
Ich stelle meinen halb vollen Teller auf den Nachttisch, springe auf und mache mich auf den Weg in die Stadt. Noch nie bin ich so langsam gerannt. Ich fühle mich wie ein alter Mann.
Gelber Staub wirbelt auf und lässt die Kalkfassaden der Häuser mit dem Abendhimmel verschmelzen. In einer Gasse begegne ich meinem Schatten, aber ich erkenne ihn nicht wieder. Ebenso wenig mein neues Spiegelbild, das mir aus einem Schaufenster entgegenblickt. Mit dem langen Haar und dem Bart sehe ich aus wie der Weihnachtsmann, bevor er alt und dick wurde. Aber das ist nicht alles. Die schmerzenden Knochen verändern meinen Gang. Meine Schultern sind breiter geworden, und meine Schuhe sind mir viel zu klein. Bei meinem Anblick verstecken sich Kinder hinter den Röcken ihrer Mütter.
An einer Straßenecke hängt ein Plakat von Miss Acacia. Ich betrachte es eingehend. Sehnsüchtiges Verlangen jagt mir Schauer durch den Körper. In ihrem Blick liegt neues Selbstbewusstsein, obwohl sie immer noch keine Brille trägt. Ihre Fingernägel sind länger geworden und feuerrot lackiert. Während Miss Acacia noch betörender aussieht als früher, bin ich ein Höhlenmensch im Schlafanzug.
Im Extraordinarium gehe ich direkt zur Geisterbahn. Dort überfallen mich meine schönsten Erinnerungen und eilen zurück an ihren alten Platz in meinem Kopf. Die schlechten Erinnerungen folgen auf dem Fuß.
Ich mische mich unter die Besucher der Geisterbahn und setze mich in einen Waggon, als ich Joe entdecke. Er hockt auf der Abfahrtsrampe und raucht eine Zigarette. Der Parcours der Geisterbahn ist anscheinend erweitert worden. Plötzlich sehe ich Miss Acacia, sie sitzt nur ein paar Reihen hinter mir. Schweig still, mein Herz! Sie erkennt mich nicht. Schweig still, mein Herz! Niemand erkennt mich. Ich erkenne mich ja selbst kaum wieder. Joe versucht, mich zu erschrecken. Vergeblich. Dafür beweist er allerdings nach der Fahrt, dass auf sein Talent, meine Träume zu
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