Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
seinetwegen Miss Acacia verloren.«
»Das ist nicht wahr!«
»Du hättest es merken können, aber du warst viel zu fest von deiner eigenen Schwäche überzeugt. Glaub mir! Wenn du unbedingt willst, lies die letzten Kapitel des Buches, auch wenn es schmerzhaft ist. Aber wenn du wirklich ein neues Leben beginnen willst, musst du mit der Vergangenheit abschließen.«
»Warum hätte Méliès mir das verheimlichen sollen?«
»Er wollte dich schützen. Er war der Meinung, du würdest die schmerzliche Wahrheit noch nicht verkraften. Außerdem schien es dir mit deinem Uhrenherz ja recht gut zu gehen. Und als ihr nach dem Unfall in die Werkstatt zurückgekehrt seid, war es zu spät. Du standest in dem Moment derart unter Schock, dass er es für zu gefährlich hielt, dir alles zu sagen. Er machte sich schreckliche Vorwürfe, weil er es dir so lange verschwiegen hatte. Aber deine Geschichte hatte ihn einfach verzaubert. Er glaubt nur zu gern an das Unmögliche. Wie du. Es machte ihn glücklich, dass du den unerschütterlichen Glauben an deine Uhr nie verloren hast, obwohl du älter wurdest. Bis zu jener tragischen Nacht …«
»Ich will mich nicht daran erinnern.«
»Das verstehe ich, aber ich muss dir erzählen, was danach passiert ist. Willst du was trinken?«
»Ja. Aber keinen Alkohol, ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.«
Während die Krankenschwester mir ein Glas Wasser holt, betrachte ich mein altes Herz auf dem Nachttisch. Dann schiebe ich den verknitterten Schlafanzug hoch und beäuge mein neues Herz. Das Gehäuse ist aus Metall, die Zeiger sind hinter einer Glasscheibe verborgen. Die neue Uhr juckt, es fühlt sich an, als hätte man mir das Herz eines Fremden eingepflanzt. Ich frage mich, was diese Frau mir noch alles weismachen will.
»Während Méliès in der Stadt nach einer provisorischen neuen Uhr für dich suchte«, erklärt sie, »hast du versucht, deine alte Kuckucksuhr aufzuziehen. Kannst du dich daran erinnern?«
»Vage.«
»Méliès hat mir erzählt, dass du bei seiner Rückkehr halb bewusstlos warst und stark geblutet hast.«
»Ja, mir war schwindelig, und alles drehte sich.«
»Du hattest innere Blutungen. Als Méliès merkte, wie schlecht es um dich stand, erinnerte er sich plötzlich an mich. Auch wenn er meine Küsse längst vergessen hatte, mein Talent als Krankenschwester war ihm im Gedächtnis geblieben. Er kam, so schnell er konnte, zu mir und bat mich um Hilfe. Ich konnte die Blutung gerade noch rechtzeitig stillen, aber du bist nicht wieder aufgewacht. Méliès bestand darauf, die Operation durchzuführen, die er dir versprochen hatte. Er war der Meinung, mit einer neuen Uhr würdest du dich nach dem Aufwachen besser fühlen. Natürlich war das purer Aberglaube. Aber er hatte Angst, du würdest sonst sterben. Er wollte es nicht darauf ankommen lassen.«
Ich höre ruhig zu, als würde sie über einen entfernten Bekannten sprechen. Es fällt mir schwer, ihre Worte mit meiner Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
»Ich war unsterblich verliebt in Méliès, auch wenn ich wusste, dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Und ich muss gestehen, ich habe mich anfangs nur um dich gekümmert, um in seiner Nähe sein zu können. Doch nachdem ich Der Mann ohne Tricks gelesen hatte, bist du mir immer mehr ans Herz gewachsen. Deine Geschichte hat mich gefesselt, im übertragenen und im buchstäblichen Sinn. Seither wache ich an deinem Bett.«
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. In meiner rechten Gehirnhälfte blinkt eine Warnmeldung auf: Vielleicht-sagt-sie-die-Wahrheit. Vielleicht-sagt-sie-die-Wahrheit .
»Als du dir vor Miss Acacias Augen das Herz aus der Brust gerissen hast, wolltest du ihr – Méliès zufolge – zeigen, wie verletzt du warst, und ihr beweisen, wie sehr du sie liebst. Es war eine Verzweiflungstat. Und eine Riesendummheit. Aber du bist noch sehr jung, ein kleiner Junge auf der Schwelle zum Erwachsenen, ein Junge, der seine Kindheitsträume noch nicht aufgeben möchte und Traum und Wirklichkeit vermischt, um zu überleben.«
»Bis vor ein paar Minuten war ich dieser Junge …«
»Nicht ganz, du bist ein anderer, seit du dein altes Herz aufgegeben hast. Genau davor hatte Madeleine Angst: Sie wollte nicht, dass du erwachsen wirst.«
Immer wenn ich »unmöglich« denke, hallt »möglich« von den Innenwänden meines Schädels wider.
»Ich erzähle dir nur, was in Méliès’ Buch steht. Er hat es mir an dem Tag geschenkt, als er nach Paris aufbrach.«
»Wann kommt er
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