Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
hat. Die Krankenschwester, die übrigens Jehanne heißt, schreibt die Metamorphose dem langen Koma zu: Meine Knochen seien drei Jahre lang wie Sprungfedern gespannt gewesen und wuchsen jetzt wie verrückt, um verzweifelt die verlorene Zeit wettzumachen. Selbst mein Gesicht verändert sich. Die Kiefer werden breiter, die Wangenknochen treten hervor.
»Wenn das nicht mein niedlicher Neandertaler in seinem schicken Anzug ist«, ruft Miss Acacia mir zu, wenn sie mich sieht. »Fehlt nur noch ein Besuch beim Friseur, und die Rückkehr in die Zivilisation ist perfekt.«
»Wenn du mich deinen niedlichen Neandertaler nennst, rasiere ich mich nie wieder!«
Die Worte sind mir einfach so entschlüpft, › flirtando piano ‹, hätte mir Méliès zugeraunt.
»Du kannst dich ruhig rasieren. Wenn du willst, nenne ich dich auch ohne Bart meinen niedlichen Neandertaler.«
Das Kribbeln feiert ein großes Comeback. Leider kann ich es nicht ganz und gar genießen, aber es ist immer noch besser, als nicht in ihrer Nähe zu sein.
»Du erinnerst mich irgendwie an einen ehemaligen Freund.«
»Eher an ›ehemalig‹ oder eher an ›Freund‹?«
»Beides.«
»Hatte er einen Bart?«
»Nein, aber wie du tat er immer sehr geheimnisvoll. Er glaubte felsenfest an seine Lügengeschichten, oder an seine Träume, schwer zu sagen. Ich dachte, er wolle mich nur beeindrucken, aber er glaubte wirklich daran.«
»Vielleicht glaubte er daran und wollte dich beeindrucken.«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Er ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»Gestorben?«
»Ja, ich habe noch heute Morgen Blumen auf sein Grab gelegt.«
»Und was, wenn er nur gestorben ist, um dich zu beeindrucken und damit du ihm glaubst?«
»Das würde ihm ähnlich sehen, aber er hätte mich nicht drei Jahre warten lassen. Er wäre längst wieder aufgetaucht.«
»Woran ist er denn gestorben?«
»Das ist ein Rätsel. Manche behaupten, ein Rudel Wölfe habe ihn zerfleischt, andere sagen, er habe mit dem Feuer gespielt und sei in den Flammen umgekommen. Ich selbst befürchte, dass er nach unserem letzten Streit vor Wut gestorben ist. Es war ein schlimmer Streit. Aber eins ist sicher: Er ist tot, denn er liegt auf dem Friedhof begraben. Außerdem: Wenn er noch leben würde, wäre er hier. Bei mir.«
Ich bin zu einem Gespenst geworden, das sich hinter seinem Bart versteckt.
»Hat er dich zu sehr geliebt?«
»Man kann nicht zu sehr lieben!«
»Hat er dich auf die falsche Art geliebt?«
»Ich weiß nicht … Aber mich über meinen ehemaligen Geliebten auszufragen, der vor drei Jahren gestorben ist, ist nicht die geschickteste Art, mit mir zu flirten!«
»Was ist denn die geschickteste Art, mit dir zu flirten?«
»Überhaupt nicht mit mir zu flirten.«
»Genau. Deshalb habe ich ja auch nicht mit dir geflirtet!«
Sie lächelt.
Ich will ihr alles sagen, ich bin wirklich kurz davor. Mit meinem alten Herzen wären die Worte wahrscheinlich einfach so aus mir herausgepurzelt, aber jetzt ist alles anders.
Ich kehre in Méliès’ Werkstatt zurück wie ein Vampir in seine Gruft. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich der Versuchung nicht widerstehen konnte und Blut geleckt habe.
›Du wirst nie wieder der Alte sein‹, hat Méliès vor der Operation gesagt. Die Reue lauert am Rande eines Abgrunds, über dem sich düstere Gewitterwolken zusammenballen. Schon nach wenigen Monaten habe ich die Schnauze voll von meinem neuen Leben auf Sparflamme. Sobald ich ganz und gar gesund bin, will ich zurück ins Feuer, und zwar ohne mich hinter einem struppigen Bart und Zottelhaaren zu verstecken. Nur über das rätselhafte Wachstum bin ich nicht unglücklich. Jedenfalls muss ich dieser Farce von einem Wiedersehen ein Ende machen.
Am Abend lege ich mich mit der festen Absicht schlafen, den Schrottplatz meiner Leidenschaften nach brauchbaren Erinnerungen und Träumen zu durchstöbern. Mal sehen, was von meinem alten Herzen noch übrig ist, dem Herzen, mit dem ich mich verliebt habe.
Die neue Uhr tickt fast geräuschlos, trotzdem kann ich nicht schlafen. Meine alte Uhr liegt in einem Karton auf dem Regal. Vielleicht wäre alles wieder wie früher, wenn ich sie reparieren könnte. Kein Joe und kein Messer, das sich mir zwischen die Zeiger bohrt. Ich sehne mich nach den guten alten Zeiten, als ich blindlings liebte, ohne Strategie, als ich einfach drauflosstürmte und keine Angst hatte, über meine eigenen Träume zu stolpern. Ich sehne mich nach den Zeiten, als ich mich vor nichts
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