Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
Montag, 22. Juni 2009
Heinrich Müllers linker Schuh steckte im Morast. Zwar blies seit dem frühen Morgen die Bise und trocknete die Felder. Auch die Sonne schien, aber sie hatte es noch nicht vermocht, die Nässe des gestrigen Gewitterregens aus dem Boden zu ziehen. Der Abhang blieb glitschig. Müller hätte sich besser weiter oben eingereiht. Dann stände er näher beim Wäldchen, das jetzt unerreichbar viel höher lag.
Am Detektiv vorbei stürmten und keuchten verschwitzte Männer in seltsamen Kostümen in Richtung Westen hinunter zum See. Andere suchten dem Getümmel zu entkommen. Plötzlich befreite die ungestüme Bewegung der Masse auch Müller aus seiner misslichen Lage, riss ihn mit sich fort, unter Verlust des linken Schuhs, sodass Heinrich ins Stolpern geriet und der Länge nach hinfiel. Dabei verlor er auch noch seinen Langspieß und beschmutzte das Kostüm. Als er an sich hinunterblickte, waren die roten Beinlinge mit dem weißen Kreuz kuhfladenbraun verfärbt, das dünne Blech, das den Oberkörper schützte, wies mehrere Dellen auf, und der Lederhelm hing nur noch lose am Bändel, das vom Kinn unter die Nase gerutscht war.
Hoffentlich keine Großaufnahme, dachte Müller, als er sich auf allen vieren davonschleichen wollte. Ohne Vorwarnung geriet alles durcheinander. Der Kampflärm übertönte nun jedes vernünftige Maß. Nicht nur Holzstöcke prasselten aufeinander, jemand feuerte ganz in seiner Nähe eine Feldschlange mit unerträglichem Getöse ab, obwohl eine derartige kriegerische Eskalation im Drehbuch nicht vorgesehen war. Einer schrie auf, ein paar andere fluchten, ein weiterer hieb erfolglos mit seiner gelben Fahne, auf der Müller den Uristier erkennen konnte, auf ein paar Statisten ein und wollte sie zur Umkehr bewegen.
Die farbenfrohen Strumpfhosen benötigten inzwischen einen doppelten Waschgang, ein Pferd hatte sich irgendwo losgemacht und stürmte durch die Massen. Heinrich hielt die Ohren zu und duckte sich in Kauerstellung hinter ein umgekipptes Geschütz, als ob es darum ginge, einem Blitzschlag auszuweichen. Jegliche Ordnung hatte sich wie von selbst aufgelöst.
Über ein Megafon hörte man von oben die verzweifelte Stimme des Regisseurs, der nichts anderes mehr brüllte als »Stopp!«, während unten bereits die ersten Martinshörner der Rettungswagen ihre singende Melodie in den Tag hineinbrüllten. Erst nach mehrmaligem Anlauf gelang es, die Aufregung unter Kontrolle zu bringen und die unkontrollierte Flucht zu beenden.
Dann spuckte das Megafon wilde Flüche aus. Erst einige Minuten später verstand man ein paar Worte deutlicher. Der Regisseur nämlich jagte alle zurück auf ihre Ausgangspositionen. Heinrich Müller setzte sich auf, nahm den Helm ab, schüttelte die wenigen Haare auf dem Kopf, säuberte Mund und Gesicht von einzelnen Gräsern und richtete, so gut es ging, Rüstung und Kleidung. Weiter unten lag Murten, ein mittelalterliches Städtchen am gleichnamigen See, das bereits zum Kanton Fribourg gehörte. Man konnte sich demnach guten Gewissens fragen, was ein Berner Detektiv hier zu suchen hatte.
Müller zog eine zusammengedrückte Leberwurstsemmel aus dem Wams und suchte den genauen Ort, an dem die Metzgerei lag, die die würzige Spezialität herstellte. Er folgte mit seinen Blicken der intakten Stadtmauer, deren Wehrgang man größtenteils noch begehen konnte. Sie riegelte die Altstadt von den umliegenden neueren Quartieren ab, einige Türme unterschiedlicher Form verstärkten den abweisenden Eindruck, den der Ort von außen erweckte. In der Ferne glänzte der See, dahinter erhob sich der Mont Vully mit seinen Rebbergen und der von seinem Standpunkt aus nicht sichtbaren keltischen Höhensiedlung.
Müller lechzte nach einem Glas perlend frischen Seeweins, doch er wurde aus seinen Gedanken gerissen und begab sich zum dominierenden Rundzelt, vor dem einer die alte Berner Flagge schwenkte, ein schmales weißes Kreuz, in die vier Ecken hinaus schwarze und rote Wellen. Der Detektiv hatte sich aus dem Fundus Hosen geholt, an beiden Beinen rot, was eher zu den Schwyzern gepasst hätte, denn die Beinlinge seines eigenen Fahnenträgers leuchteten links in Rot und rechts in Schwarz. Aber Schwyzer fand man keine auf dem Set, also war es wohl egal. Hauptsache das Schweizer Kreuz war auf dem Oberschenkel, wenn einer nämlich auf dem Feld liegen blieb, verstümmelt, unkenntlich oder gar kopflos, erkannte man an den Hosen, zu welchem Lager er gehörte und ob man ihn begraben
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