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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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verkörperten. Ich blätterte in Machiavellis
Il Principe,
und mir fiel ein, dass mit dem Streit um den Inhalt dieses Buches mein Unglück angefangen hatte. Ich beschloss, es zurückzugeben. Sofort. Sebastiano würde nicht an unserem Treffpunkt im Buchenhain sein, da wir nicht verabredet waren, aber das war mir gleichgültig. Ich würde das Buch dort ablegen, gut verpackt, geschützt vor der Witterung, und wieder gehen.
    Als ich die Stelle im Wald erreichte, legte ich das Buch in den ausgehöhlten Baumstumpf, auf dem Sebastiano so gern saß. Ich legte es hinein und wollte gehen, aber mein Blick fiel auf einen Stab, der daneben im Boden steckte. Es war der Wanderstab, jener kräftige Stock, der von Conor auf Latif und von Latif auf Sebastiano übergegangen war. Nun hatte er den Weg zu mir gefunden.
    Ich zog ihn heraus und entdeckte den eingeritzten Schriftzug: S E B A S T I A N O . Das konnte nur eines bedeuten: Der Mann, um dessentwillen Latif mich verlassen hatte, hatte mich ebenfalls verlassen! Carla Maria Castagnolo, die große Medica, die sich nur nach ein wenig Zärtlichkeit gesehnt hatte, war dafür gleich doppelt bestraft worden. Ein Aberwitz! Ein Paradoxon! So tragisch, dass man darüber fast lachen konnte. Und ich lachte unter Tränen. Ich lachte und lachte und konnte nicht aufhören damit, und es hallte durch den ganzen Wald.
     
    Wie ich zu meiner Höhle zurückkam, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich, kurz bevor ich sie erreichte, den Wanderstab mit aller Kraft in den Bach schleuderte und mit Befriedigung sah, wie er von der Strömung zu Tal gerissen wurde.
    Dann war ich allein. Nicht einmal die Ziegen waren mehr da, denn Latif und ich hatten sie vor unserem Versuch, nach Bologna zurückzukehren, freigelassen.
    Ich aß nicht, ich trank nicht, ich schlief nicht. Ich lief umher wie ein Automat. Mit Sicherheit wäre ich früher oder später umgefallen und nie wieder aufgestanden, aber Gott, der Allmächtige, entschied, dass meine Zeit noch nicht gekommen war. Er sandte mir ein Zeichen, denn irgendwann in diesen dunklen Tagen hörte ich ein leises Meckern. Es drang von außen in meine Höhle und gehörte dem alten Muttertier, das Latif und mir damals zugelaufen war. Es hatte ein Zicklein bei sich, und mit großer Selbstverständlichkeit nahm die Ziege wieder den Platz ein, den sie schon einmal innegehabt hatte.
    Ich war nicht mehr allein.
    Ich nannte die alte Geiß Compagna und ihr kleines Böckchen Figliolo. Mit ihnen verbrachte ich meine Tage, und wenn ich in ihre rechteckigen Pupillen sah, ging ein Teil ihrer Zufriedenheit auf mich über. Ich lernte von ihnen Genügsamkeit und Gelassenheit, und ihre Gegenwart machte mich dankbar.
    So verging der Sommer. Der Herbst kam und der Winter. Ich musste mich kaum um meine Ernährung sorgen, denn die Vorräte in den Höhlenkammern waren für zwei Personen angelegt. Für Latif und mich … Dennoch machte ich es mir zur Angewohnheit, frühmorgens Compagna zu besuchen und sie zu melken, denn Figliolo brauchte ihre Milch nicht mehr. Compagna war eine gute Milchgeberin, deren Quelle über Monate hinweg nicht versiegte, deshalb wunderte ich mich, als sie im Frühjahr spärlicher floss. Man schrieb das Jahr 1596. Es war mein erstes Jahr, das ich ohne jegliche menschliche Gesellschaft verbringen musste. »Was hast du, Compagna?«, fragte ich sie, aber sie schaute mich nur an und fraß weiter.
    Am nächsten Tag fiel mir abermals auf, dass der Strahl aus ihren Zitzen dünner war. Ich schaute auf meine Hände und bemerkte, dass sie ein wenig zitterten. Das Zittern konnte nicht von der Anstrengung des Melkens kommen, denn das war ich gewohnt. War es das Alter? Ich war im März vierundvierzig Jahre alt geworden, also eine Frau, die den größten Teil ihres Lebens hinter sich hatte. Aber mussten deswegen meine Hände zittern? Der Tremor verging, und ich dachte mir weiter nichts dabei. Der Grund für den mangelnden Milchfluss waren meine schwächeren Hände gewesen.
    Doch nach ein paar Tagen trat das Zittern wieder auf, gefolgt von einem Rigor, einer Muskelstarre, die mich zu einer Unterbrechung meiner Hausarbeit zwang.
    Das gab mir zu denken, zumal die Symptome sich in den nächsten Wochen verstärkten. Ich hatte häufiger Schmerzen in den Händen und stellte mich in manchen Dingen unbeholfener an. Auch meine Bewegungen waren mitunter etwas langsamer. Es kam der Tag, da konnte ich mir nichts mehr vormachen: Die ersten Anzeichen der Schüttellähmung zeigten sich

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