0985 - Libertys Tränen
»Meine Damen und Herren, die Bronx steht in Flammen!«
- Howard Cosell, US-Sportjournalist
Kapitel 1
Libertys Tränen
Wenige Tage zuvor
»Ach, verflucht.« Stan Decker zog die Nase hoch und spuckte in hohem Bogen in den Morgennebel, der die Eastchester Bay bedeckte, als wolle er sie nie mehr loslassen. Hatte er also doch recht behalten. »Siehste? Hab doch gesagt, dass da was is’.«
Sein Kollege Jer nickte. »Okay, okay, der Schnaps heute Abend geht auf mich.«
»Das will ich meinen«, bekräftigte Stan lachend. »Ohne mich wärn wir glatt gesunken. Dann würdest du jetzt kaltes Baywasser trinken.«
Verdammter Nebel. Das Schiff direkt vor ihnen war wie aus dem Nichts erschienen. Hätte Stan nicht auf seinen durch jahrzehntelange Krabbenfischerroutine geschulten Instinkt vertraut und Jer noch rechtzeitig ins Ruder gegriffen, hätten sie das elende Ding doch tatsächlich gerammt und den kleinen Kutter, mit dem sie auch an diesem Morgen wieder aufgebrochen waren, womöglich irreparabel beschädigt.
»Was fahren wir auch bei der Suppe raus«, murmelte Jer mit leicht anklagendem Ton. Er moserte nicht zum ersten Mal.
»Wärst du lieber im Bett geblieben, ja?«, blaffte Stan zurück. »Brauchst du kein Geld mehr?«
Die Lage war schlechter als je zuvor. Die Bay, seit Generationen ein wahres El Dorado für Leute seines Berufsstands, galt als mehr oder weniger leergefischt. Entsprechend hart war der Wettbewerb für diejenigen, die keinen anderen Job kannten und wollten. Leute wie Stan, deren Ahnen und Urahnen schon auf diesem Gewässer und zwischen Tauen und Planken gelebt hatten.
Wer heute noch sein täglich Brot von der Eastchester erwirtschaften wollte, musste früh auf stehen. Sonst war die Konkurrenz schon da und ließ einem nichts mehr übrig. Und was den Nebel anging -Männer, die für ihre Ideale kein bisschen Risiko einzugehen bereit waren, hatten in Stans Augen die Bezeichnung Männer gar nicht verdient.
»Und jetzt?« Jer kniff die Augen enger zusammen und spähte in die grauen Schwaden vor dem Brückenfenster. »Li… ber…tys Tränen«, las er angestrengt, was am Heck des Schiffes angeschrieben stand. »Exzentrischer Name.«
»Exzentrischer Kahn«, brummte Stan. Er hatte die Handlampe von der Steuerkonsole genommen, war zur offenen Brückentür getreten und leuchtete dem fremden Schiff nun entgegen. Allmählich wurden Details sichtbar. »Das muss ein ziemliches Nobeldings sein. Eine Jacht, wie sie seit Tagen hinten im Inselhafen ankommen.«
Jer grunzte ungehalten. Er hielt nicht viel von dieser High Society, die anlässlich der bevorstehenden Zweihundertfünfzig-Jahr-Feier City Islands über die Insel herfiel wie eine biblische Heuschreckenplage. Er griff zum Funkgerät. »D13 an Libertys Tränen. D13 an Libertys Tränen. Sag mal, habt ihr Tomaten auf den Augen, oder warum macht ihr euch bei dem Scheißwetter nicht von selbst bemerkbar?«
Statisches Rauschen antwortete ihm. Die Jacht blieb so dunkel und still, wie sie gewesen war. Stan stutzte. Wenn er es richtig sah, brannte kein einziges Licht an und in ihr. Auch der Motor schwieg. Als wäre es ein Geisterschiff, dachte Stan und tadelte sich gleich darauf für die Gänsehaut, die der Gedanke irrationalerweise auf seine Arme zauberte. Was war denn los mit ihm?
»Die treibt führerlos herum«, stellte er fest. »Vielleicht steht da niemand auf der Brücke, der dich hören kann.«
»Das wäre doch unverantwortlich«, gab Jer zurück. »So jemandem gehört der Führerschein entzogen.«
»Führerschein«, murmelte Stan belustigt. Doch so allmählich bekam er ein ungutes Gefühl bei dieser Sache. Er trat zurück zur Konsole und nahm selbst das Funkgerät. »Libertys Tränen, hier spricht Captain Stanley Decker vom Krabbenkutter D13, Heimathafen City Island. Durch ihre Funkstille und mangelnde Außenbeleuchtung gefährden sie die Schifffahrt auf der Eastchester Bay. Benötigen Sie Hilfe?«
Wieder kam keinerlei Reaktion von der Jacht.
»Scheiß High Society«, schimpfte Jer. »Die glauben wohl, nur weil sie sich mit dem, was wir im Jahr verdienen, den Hintern abwischen, bräuchten sie hier draußen nicht auf uns zu achten.«
Stan schluckte. »So wie ich das sehe, haben wir jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder alarmieren wir die Coast Guard, oder wir gehen selbst da rüber und schauen nach dem Rechten.«
»Rübergehen? Spinnst du? Damit die uns ins Gesicht sagen können, wie wenig sie von uns halten?«
»Na ja, wenn wir nichts tun, bleibt
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