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Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Carmichael
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breite Mund im stummen Schrei geöffnet. Den beißenden Gestank des Schießpulvers und den metallischen Blutgeruch hatte er noch heute in der Nase. Wut stieg in ihm hoch, bis er glaubte, die Brust müsse ihm zerspringen.
    »Diese verabscheuungswürdigen Verbrechen fordern umgehende Strafmaßnahmen seitens der aufrechten Bürger von Virginia City. Aufgrund der eidesstattlichen Aussage von Mr. Ace Candliss über den Tathergang … ahm« –
    Will öffnete die Augen, während der Marshal die von Candliss verfaßte Anklageschrift weiter verlas. Das Ende nahte. Will spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
    – »ähm … und da Richter Parker erst in zwei Wochen von einer Reise zurückkehrt, ordne ich … ähm … als sein Stellvertreter aus Sorge um die Sicherheit unserer Stadt die umgehende Hinrichtung des Täters an.« Er schloß seine Rede mit einem selbstgefälligen Kopfnicken.
    Der Marshal prüfte ein letztes Mal, ob der Strick ordnungsgemäß an dem dicken Ast befestigt war. Aus dem Augenwinkel beobachtete Will, wie der Deputy nach hinten ging, um dem Pferd einen kräftigen Schlag auf die Kruppe zu versetzen. Sein Magen krampfte sich noch mehr zusammen. Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht mit der Schlinge um den Hals vom Ast baumeln, bis die letzte Farbe aus ihm gewichen war.
    Die Zeit schien stehenzubleiben, die Worte seines Schwarzfußfreundes ›Krummer Stab‹ gingen ihm durch den Kopf: Ein Mann, der keine Angst vor dem Tod hat, ist ein Narr. »Ein Mann, der seine Angst nicht zähmen kann, ist ein Feigling.« Er war kein Feigling. Er würde dem gaffenden Mob den Spaß nicht gönnen, sich an seiner Angst zu ergötzen.
    Seine Reaktion war Zorn. Will fixierte Ace Candliss, der in der ersten Reihe stand, auf Krücken gestützt, mit einem Verband um den Oberschenkel, Wut und Haß spiegelten sich in seinen Augen.
    Die Stimme des Marshals riß Will aus seinen Gedanken. »Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen?«
    »Ich habe alles gesagt, was zu sagen ist, aber Sie haben mir nicht zugehört.«
    Der Marshal räusperte sich erneut. »Somit wird das Urteil vollstreckt.«
    Der Schlag des Hilfssheriffs auf die Kruppe des Pferdes überschnitt sich mit dem Krachen eines Schusses. Das Pferd schnellte nach vorn – im selben Augenblick riß der Henkerstrick. Ohne seine plötzliche Befreiung richtig zu begreifen, bohrte Will die Fersen in die Flanken des Pferdes. Er galoppierte direkt in die glotzende Zuschauermenge. Die Menschen sprangen kreischend und fluchend zur Seite. Will hatte das sprichwörtliche Glück der Iren immer für ein Märchen gehalten, doch nun sandte er ein Stoßgebet zum Heiligen Patrick, er möge ihm beistehen.
    »Pa! Hierher!« Ein kleines Mädchen auf einem kräftigen Appaloosa galoppierte aus einer Seitengasse und versuchte gleichzeitig, die Flinte in die Sattelschlaufe zu schieben. »Hier lang, Pa!«
    »Katy! Verflucht! Was zum …?«
    »Hier lang!«
    Sie galoppierten auf die Berge im Westen zu. Mit einem raschen Blick über die Schulter vergewisserte Will sich, daß die Jagd los war. Der Marshal und weitere drei bis vier Männer saßen auf. Dann versperrten ihm Bäume den Blick auf die Stadt.
    Katys Gaul kam so plötzlich zum Stehen, daß Wills Pferd beinahe in ihn hineingerannt wäre. Sie zog ein Messer aus dem Gürtel und säbelte an den Stricken, mit denen Wills Handgelenke gefesselt waren.
    »Die Schlinge kann ich später abnehmen«, keuchte er. »Nun mach, daß du fortkommst.«
    Katy hörte nicht auf ihn. »Ellen! Ellen, komm raus!«
    »O Gott! Nicht Ellen auch noch!«
    Im Gebüsch am Wegrand raschelte es. Zögernd führte Ellen ihr Pferd am Zügel.
    »Na los, steig auf!« befahl Katy. »Glaubst du, wir haben den ganzen Tag Zeit?«
    »Ihr beide verschwindet jetzt!« befahl Will streng. Die beiden Mädchen, einander verblüffend ähnlich sehend, mit ihren schwarzen Haaren und grünen Augen, jede mit Grübchen in den Wangen, begegneten seinem finsteren Blick mit trotzig vorgerecktem Kinn. »Ihr reitet zurück zur Witwe Casey, und dort bleibt ihr!«
    »Kommt nicht infrage«, flötete Katy munter. »Wir kommen mit dir.«
    »Den Teufel werdet ihr tun!«
    Doch Katy hatte sich schon in Bewegung gesetzt. »Ich kenne einen Geheimweg«, rief sie über die Schulter und grinste. »Oder wollt ihr zwei den ganzen Tag hier vertrödeln?«
    Will folgte ihr fluchend. Was blieb ihm anderes übrig? Die hinter ihm reitende Ellen erklärte: »Es war Katys Idee.«
    »Das dachte ich mir.«
    Schweigend

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